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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Illusionen des Hautsinne.
Sehr selten sind die Fälle, wo Geisteskranke in angenehmen Ge-
schmacksempfindungen, dem vermeintlichen Genusse von Delicatessen,
deliriren.

Esquirol spricht von solchen Fällen; der einzige, von Leuret angeführte Fall
(p. 197) dürfte kaum als Beispiel hiefür gelten können.

§. 54.

In der Haut und den Eingeweiden lassen sich Hallucinationen
und Illusionen nicht mehr unterscheiden, oder vielmehr -- die hier-
her gehörigen Erscheinungen, sofern sie nicht (§. 44.) auf Anästhesie
beruhen, sind durchweg als Illusionen zu betrachten, indem die spe-
cifische Anomalie eben in der falschen Auslegung von Empfin-
dungen, wie sie auch beim Gesunden oder in den verschiedensten
Krankheitszuständen vorkommen, besteht. Der Anfang dieser Illusionen
besteht darin, dass gewisse schmerzhafte Empfindungen von dem
Kranken auf phantastische Weise mit analogen Vorgängen nur ver-
glichen
werden. So sagen die Hypochondristen anfangs nur, es
sei ihnen, als ob
Schlangen in der Haut liefen, Frösche im Unter-
leibe wären, als ob in der Brusthöhle ein Vogel pfiffe, oder -- eine
Aeusserung, die wir neuerlichst vernahmen -- ein junger Hund im
Kopfe Wasser schlürfte. Aber die anfangs bildliche Vergleichung
wird bei starkem und anhaltendem Fortbestehen jener Empfindungen,
unter dem Einfluss äusserlich begünstigender Umstände und innerlich
zunehmender Verstimmung, nach deren Grund sich das Individuum
bald ernstlicher umsieht, zum ausgebildeten Wahn; es entstehen dann
aus anomalen Hautsensationen oder einem krankhaften Muskelspiel
fixe Ideen, in denen jene Sensationen entweder einer innerlichen
phantastischen Ursache (Spinnen, Grillen und andere Thiere im Kör-
per, Besessensein einzelner Organe von einem bösen Geiste u. dgl.)
oder äusseren Einwirkungen beeinträchtigender Art (fremden Magne-
tiseurs, boshaften physicalischen Versuchen etc.) im Ernste zugeschrie-
ben werden. So sieht man dann aus einzelnen Schmerzen in der
Haut den Wahn, gestochen oder geprügelt zu werden, am Arme ge-
fasst oder angebunden zu sein, aus anomalen Abdominalsensationen
die Idee, dass der Teufel, das jüngste Gericht, die Kreuzigung Christi *)

*) Eine Kranke Esquirols hatte diesen Wahn. "Ich kann es kaum aus-
halten," sagte sie zuweilen, "wann wird endlich Friede in der Kirche sein!" --
Ein Kranker in Winnenthal schrie Monate lang fort: "Hör' auf und lass mich
gehen!" Er glaubte bald von einem Wesen, das ihm im Bauche sitze, gequält,
bald von imaginären Ochsen mit den Hörnern gestossen zu werden.

Illusionen des Hautsinne.
Sehr selten sind die Fälle, wo Geisteskranke in angenehmen Ge-
schmacksempfindungen, dem vermeintlichen Genusse von Delicatessen,
deliriren.

Esquirol spricht von solchen Fällen; der einzige, von Leuret angeführte Fall
(p. 197) dürfte kaum als Beispiel hiefür gelten können.

§. 54.

In der Haut und den Eingeweiden lassen sich Hallucinationen
und Illusionen nicht mehr unterscheiden, oder vielmehr — die hier-
her gehörigen Erscheinungen, sofern sie nicht (§. 44.) auf Anästhesie
beruhen, sind durchweg als Illusionen zu betrachten, indem die spe-
cifische Anomalie eben in der falschen Auslegung von Empfin-
dungen, wie sie auch beim Gesunden oder in den verschiedensten
Krankheitszuständen vorkommen, besteht. Der Anfang dieser Illusionen
besteht darin, dass gewisse schmerzhafte Empfindungen von dem
Kranken auf phantastische Weise mit analogen Vorgängen nur ver-
glichen
werden. So sagen die Hypochondristen anfangs nur, es
sei ihnen, als ob
Schlangen in der Haut liefen, Frösche im Unter-
leibe wären, als ob in der Brusthöhle ein Vogel pfiffe, oder — eine
Aeusserung, die wir neuerlichst vernahmen — ein junger Hund im
Kopfe Wasser schlürfte. Aber die anfangs bildliche Vergleichung
wird bei starkem und anhaltendem Fortbestehen jener Empfindungen,
unter dem Einfluss äusserlich begünstigender Umstände und innerlich
zunehmender Verstimmung, nach deren Grund sich das Individuum
bald ernstlicher umsieht, zum ausgebildeten Wahn; es entstehen dann
aus anomalen Hautsensationen oder einem krankhaften Muskelspiel
fixe Ideen, in denen jene Sensationen entweder einer innerlichen
phantastischen Ursache (Spinnen, Grillen und andere Thiere im Kör-
per, Besessensein einzelner Organe von einem bösen Geiste u. dgl.)
oder äusseren Einwirkungen beeinträchtigender Art (fremden Magne-
tiseurs, boshaften physicalischen Versuchen etc.) im Ernste zugeschrie-
ben werden. So sieht man dann aus einzelnen Schmerzen in der
Haut den Wahn, gestochen oder geprügelt zu werden, am Arme ge-
fasst oder angebunden zu sein, aus anomalen Abdominalsensationen
die Idee, dass der Teufel, das jüngste Gericht, die Kreuzigung Christi *)

*) Eine Kranke Esquirols hatte diesen Wahn. „Ich kann es kaum aus-
halten,“ sagte sie zuweilen, „wann wird endlich Friede in der Kirche sein!“ —
Ein Kranker in Winnenthal schrie Monate lang fort: „Hör’ auf und lass mich
gehen!“ Er glaubte bald von einem Wesen, das ihm im Bauche sitze, gequält,
bald von imaginären Ochsen mit den Hörnern gestossen zu werden.
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[84/0098] Illusionen des Hautsinne. Sehr selten sind die Fälle, wo Geisteskranke in angenehmen Ge- schmacksempfindungen, dem vermeintlichen Genusse von Delicatessen, deliriren. Esquirol spricht von solchen Fällen; der einzige, von Leuret angeführte Fall (p. 197) dürfte kaum als Beispiel hiefür gelten können. §. 54. In der Haut und den Eingeweiden lassen sich Hallucinationen und Illusionen nicht mehr unterscheiden, oder vielmehr — die hier- her gehörigen Erscheinungen, sofern sie nicht (§. 44.) auf Anästhesie beruhen, sind durchweg als Illusionen zu betrachten, indem die spe- cifische Anomalie eben in der falschen Auslegung von Empfin- dungen, wie sie auch beim Gesunden oder in den verschiedensten Krankheitszuständen vorkommen, besteht. Der Anfang dieser Illusionen besteht darin, dass gewisse schmerzhafte Empfindungen von dem Kranken auf phantastische Weise mit analogen Vorgängen nur ver- glichen werden. So sagen die Hypochondristen anfangs nur, es sei ihnen, als ob Schlangen in der Haut liefen, Frösche im Unter- leibe wären, als ob in der Brusthöhle ein Vogel pfiffe, oder — eine Aeusserung, die wir neuerlichst vernahmen — ein junger Hund im Kopfe Wasser schlürfte. Aber die anfangs bildliche Vergleichung wird bei starkem und anhaltendem Fortbestehen jener Empfindungen, unter dem Einfluss äusserlich begünstigender Umstände und innerlich zunehmender Verstimmung, nach deren Grund sich das Individuum bald ernstlicher umsieht, zum ausgebildeten Wahn; es entstehen dann aus anomalen Hautsensationen oder einem krankhaften Muskelspiel fixe Ideen, in denen jene Sensationen entweder einer innerlichen phantastischen Ursache (Spinnen, Grillen und andere Thiere im Kör- per, Besessensein einzelner Organe von einem bösen Geiste u. dgl.) oder äusseren Einwirkungen beeinträchtigender Art (fremden Magne- tiseurs, boshaften physicalischen Versuchen etc.) im Ernste zugeschrie- ben werden. So sieht man dann aus einzelnen Schmerzen in der Haut den Wahn, gestochen oder geprügelt zu werden, am Arme ge- fasst oder angebunden zu sein, aus anomalen Abdominalsensationen die Idee, dass der Teufel, das jüngste Gericht, die Kreuzigung Christi *) *) Eine Kranke Esquirols hatte diesen Wahn. „Ich kann es kaum aus- halten,“ sagte sie zuweilen, „wann wird endlich Friede in der Kirche sein!“ — Ein Kranker in Winnenthal schrie Monate lang fort: „Hör’ auf und lass mich gehen!“ Er glaubte bald von einem Wesen, das ihm im Bauche sitze, gequält, bald von imaginären Ochsen mit den Hörnern gestossen zu werden.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/98>, abgerufen am 26.04.2024.