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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Sexuelle Excesse und Onanie.
sind es die Entbehrungen, die die Armuth mit sich bringt, die
zu Seelenschmerz und Verzweiflung führen, in denen der Mensch das
Elend der Verhältnisse kaum mehr zu überschauen, dem Jammer nicht
mehr Stand zu halten vermag, und nun in Melancholie, Selbstmord,
oder tieferes Irresein versinkt. Wie aber alsdann nicht nur diese
psychischen Einflüsse, sondern auch die gleichzeitige schlechte Er-
nährung, der Hunger, die Kälte, die körperliche Ueberanstrengung
als direct somatische Krankheitsursachen hoch anzuschlagen sind, so
treffen auch gewöhnlich bei dem unordentlichen und regellosen Leben,
sei es ein selbstverschuldetes, oder (wie z. B. bei den Anstrengungen
der Feldzüge, den Kriegsstrapazen) ein gezwungenes, diese beiderlei
schädlichen Einflüsse zusammen.

3) Eine ähnliche, doppelt verderbliche Wirkung haben die sexuel-
len Excesse
durch die häufig damit verbundene psychische Aufregung
und durch die körperliche Erschöpfung, und ebenso verhält es sich
mit der Onanie, die gleichfalls eine wichtige und frequente Ursache
des Irreseins, wie jeder andern physischen und psychischen Degra-
dation abgiebt. *) Ohne die Säfteentziehung und die directe Ein-
wirkung dieser häufig fast permanenten Genitalienreizung auf das Rücken-
mark und Gehirn nieder zu taxiren, muss man doch gewiss den
traurigen, psychischen Folgen der Onanie einen noch weit schäd-
licheren und auf das Irrewerden directeren Einfluss zuerkennen.
Jenes Kämpfen gegen einen Trieb, der schon übermächtig geworden,
jenes stete Unterliegen, jener verborgen gehaltene Zwiespalt zwischen
Scham, Reue, gutem Vorsatz und zwischen dem gebieterischen Reize
halten wir, nach nicht wenigen Geständnissen von Onanisten, für
unbedingt wichtiger, als das erste, direct somatische Moment. Der
Antheil, den beide Wirkungsweisen haben, lässt sich im einzelnen
Falle nicht ausscheiden; der Effect der Onanie scheint aber überhaupt
um so grösser, in je früherem Lebensalter durch sie die Constitution
verschlechtert wird, je mehr sie von jenen schmerzlichen Gemüths-
bewegungen begleitet ist und je mehr sie zur Ursache localer Er-
krankung der Genitalien (§. 86.) wird. Wo diese 3 Momente fehlen,
hat die Masturbation meist keine schwereren Folgen.

*) Ellis (traite de l'alienation. trad. p. Archambault. Par. 1840. p. 133)
schreibt dieser Ursache die Mehrzahl aller in den öffentlichen Anstalten behandelten
Fälle zu. Andere, wie Guislain und Parchappe, führen sie nur mit geringen
Zahlen in ihren ätiologischen Tabellen auf. Vgl. den Aufsatz von Flemming
über das Causalverhältniss der Selbstbefleckung zur Geistesverwirrung, in Jakobi
und Nasse, Zeitschrift I. 1835. p. 205.

Sexuelle Excesse und Onanie.
sind es die Entbehrungen, die die Armuth mit sich bringt, die
zu Seelenschmerz und Verzweiflung führen, in denen der Mensch das
Elend der Verhältnisse kaum mehr zu überschauen, dem Jammer nicht
mehr Stand zu halten vermag, und nun in Melancholie, Selbstmord,
oder tieferes Irresein versinkt. Wie aber alsdann nicht nur diese
psychischen Einflüsse, sondern auch die gleichzeitige schlechte Er-
nährung, der Hunger, die Kälte, die körperliche Ueberanstrengung
als direct somatische Krankheitsursachen hoch anzuschlagen sind, so
treffen auch gewöhnlich bei dem unordentlichen und regellosen Leben,
sei es ein selbstverschuldetes, oder (wie z. B. bei den Anstrengungen
der Feldzüge, den Kriegsstrapazen) ein gezwungenes, diese beiderlei
schädlichen Einflüsse zusammen.

3) Eine ähnliche, doppelt verderbliche Wirkung haben die sexuel-
len Excesse
durch die häufig damit verbundene psychische Aufregung
und durch die körperliche Erschöpfung, und ebenso verhält es sich
mit der Onanie, die gleichfalls eine wichtige und frequente Ursache
des Irreseins, wie jeder andern physischen und psychischen Degra-
dation abgiebt. *) Ohne die Säfteentziehung und die directe Ein-
wirkung dieser häufig fast permanenten Genitalienreizung auf das Rücken-
mark und Gehirn nieder zu taxiren, muss man doch gewiss den
traurigen, psychischen Folgen der Onanie einen noch weit schäd-
licheren und auf das Irrewerden directeren Einfluss zuerkennen.
Jenes Kämpfen gegen einen Trieb, der schon übermächtig geworden,
jenes stete Unterliegen, jener verborgen gehaltene Zwiespalt zwischen
Scham, Reue, gutem Vorsatz und zwischen dem gebieterischen Reize
halten wir, nach nicht wenigen Geständnissen von Onanisten, für
unbedingt wichtiger, als das erste, direct somatische Moment. Der
Antheil, den beide Wirkungsweisen haben, lässt sich im einzelnen
Falle nicht ausscheiden; der Effect der Onanie scheint aber überhaupt
um so grösser, in je früherem Lebensalter durch sie die Constitution
verschlechtert wird, je mehr sie von jenen schmerzlichen Gemüths-
bewegungen begleitet ist und je mehr sie zur Ursache localer Er-
krankung der Genitalien (§. 86.) wird. Wo diese 3 Momente fehlen,
hat die Masturbation meist keine schwereren Folgen.

*) Ellis (traité de l’aliénation. trad. p. Archambault. Par. 1840. p. 133)
schreibt dieser Ursache die Mehrzahl aller in den öffentlichen Anstalten behandelten
Fälle zu. Andere, wie Guislain und Parchappe, führen sie nur mit geringen
Zahlen in ihren ätiologischen Tabellen auf. Vgl. den Aufsatz von Flemming
über das Causalverhältniss der Selbstbefleckung zur Geistesverwirrung, in Jakobi
und Nasse, Zeitschrift I. 1835. p. 205.
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[133/0147] Sexuelle Excesse und Onanie. sind es die Entbehrungen, die die Armuth mit sich bringt, die zu Seelenschmerz und Verzweiflung führen, in denen der Mensch das Elend der Verhältnisse kaum mehr zu überschauen, dem Jammer nicht mehr Stand zu halten vermag, und nun in Melancholie, Selbstmord, oder tieferes Irresein versinkt. Wie aber alsdann nicht nur diese psychischen Einflüsse, sondern auch die gleichzeitige schlechte Er- nährung, der Hunger, die Kälte, die körperliche Ueberanstrengung als direct somatische Krankheitsursachen hoch anzuschlagen sind, so treffen auch gewöhnlich bei dem unordentlichen und regellosen Leben, sei es ein selbstverschuldetes, oder (wie z. B. bei den Anstrengungen der Feldzüge, den Kriegsstrapazen) ein gezwungenes, diese beiderlei schädlichen Einflüsse zusammen. 3) Eine ähnliche, doppelt verderbliche Wirkung haben die sexuel- len Excesse durch die häufig damit verbundene psychische Aufregung und durch die körperliche Erschöpfung, und ebenso verhält es sich mit der Onanie, die gleichfalls eine wichtige und frequente Ursache des Irreseins, wie jeder andern physischen und psychischen Degra- dation abgiebt. *) Ohne die Säfteentziehung und die directe Ein- wirkung dieser häufig fast permanenten Genitalienreizung auf das Rücken- mark und Gehirn nieder zu taxiren, muss man doch gewiss den traurigen, psychischen Folgen der Onanie einen noch weit schäd- licheren und auf das Irrewerden directeren Einfluss zuerkennen. Jenes Kämpfen gegen einen Trieb, der schon übermächtig geworden, jenes stete Unterliegen, jener verborgen gehaltene Zwiespalt zwischen Scham, Reue, gutem Vorsatz und zwischen dem gebieterischen Reize halten wir, nach nicht wenigen Geständnissen von Onanisten, für unbedingt wichtiger, als das erste, direct somatische Moment. Der Antheil, den beide Wirkungsweisen haben, lässt sich im einzelnen Falle nicht ausscheiden; der Effect der Onanie scheint aber überhaupt um so grösser, in je früherem Lebensalter durch sie die Constitution verschlechtert wird, je mehr sie von jenen schmerzlichen Gemüths- bewegungen begleitet ist und je mehr sie zur Ursache localer Er- krankung der Genitalien (§. 86.) wird. Wo diese 3 Momente fehlen, hat die Masturbation meist keine schwereren Folgen. *) Ellis (traité de l’aliénation. trad. p. Archambault. Par. 1840. p. 133) schreibt dieser Ursache die Mehrzahl aller in den öffentlichen Anstalten behandelten Fälle zu. Andere, wie Guislain und Parchappe, führen sie nur mit geringen Zahlen in ihren ätiologischen Tabellen auf. Vgl. den Aufsatz von Flemming über das Causalverhältniss der Selbstbefleckung zur Geistesverwirrung, in Jakobi und Nasse, Zeitschrift I. 1835. p. 205.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/147>, abgerufen am 26.04.2024.