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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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und Verlauf der Krankheit.
gesprochene Periodicität der Anfälle mit grösseren freien Zwischen-
räumen entschieden ungünstig. Gewöhnlich werden bei jenen Kranken,
welche anfangs alle Jahre, alle drei, sogar alle 7 Jahre in Irresein
verfallen, mit der Zeit die lucida intervalla kürzer, die Recidiven
immer länger und schwerer, und es wird mit jedem Anfalle die
Prognose trauriger. -- Bei den anhaltenden Fällen lässt im Durch-
schnitt -- doch nicht ohne Ausnahme -- eine allmählige langsame
Entwicklung der Krankheit auch einen langsameren Verlauf und
schwerere Heilbarkeit erwarten; andern Theils aber sind auch die
langsam vorschreitenden Genesungen gewöhnlich haltbarer als die
plötzlich erfolgenden. -- Ein unregelmässiger Wechsel auch stürmi-
scher Erscheinungen gilt immer für günstiger, als ein langes Beharren
in Einer Symptomengruppe, z. B. in steter heftiger Tobsucht, steter,
wenn auch nur mässiger fröhlicher Aufregung, steter Gefrässigkeit
oder anhaltendem Widerwillen gegen Speisen etc. -- Als günstige
Zeichen bei Maniacis gelten die Rückkehr einer depressiven Stimmung,
z. B. vieles Weinen, indem eine wiederkehrende Schwermuthsperiode
zuweilen die Genesung einleitet, ebenso überall die Rückkehr der
Decenz, der früheren Neigungen und Liebhabereien (zu Arbeit, zu
Musik etc.), die unversehrte Erhaltung des Gedächtnisses, das Ver-
langen, die Angehörigen wieder zu sehen u. dgl. m. -- Ein voll-
ständiges leibliches Wohlbefinden, von welchem freilich nur nach
umfassender und genauer Untersuchung aller Organe die Rede sein
kann, bei fortdauernder psychischer Störung wird mit Recht als ein
schlimmes Zeichen betrachtet; andererseits sieht man den Wieder-
eintritt früherer, aber während der Krankheit verschwundener körperli-
cher Beschwerden, theils nervöser (Zahnschmerzen, Kopfschmerzen etc.)
theils secretorischer Art (Oedeme, Blutungen) zuweilen, doch im
Ganzen nicht häufig mit entschiedener Besserung des geistigen Be-
findens, ja mit schneller Heilung zusammentreffen. Alle Remissionen
und allmählig länger dauernden Intermissionen sind natürlich günstig.
Das beste prognostische Zeichen aus den Symptomen aber ist das
Bewusstwerden der inneren Störung, das Gefühl krank zu sein, und
das Auftreten einer Reaction des (alten) Ich gegen die psychische
Störung, welche als ein krankhaft Aufgedrungenes bewusst wird;
wiewohl auch dann noch -- wie Jacobi mit Recht bemerkt -- es
an Kraft zur Durchführung dieser Reaction fehlen, und der zeitweise
Schimmer der Selbstbesinnung wieder in neuem Dunkel erlöschen
kann.

und Verlauf der Krankheit.
gesprochene Periodicität der Anfälle mit grösseren freien Zwischen-
räumen entschieden ungünstig. Gewöhnlich werden bei jenen Kranken,
welche anfangs alle Jahre, alle drei, sogar alle 7 Jahre in Irresein
verfallen, mit der Zeit die lucida intervalla kürzer, die Recidiven
immer länger und schwerer, und es wird mit jedem Anfalle die
Prognose trauriger. — Bei den anhaltenden Fällen lässt im Durch-
schnitt — doch nicht ohne Ausnahme — eine allmählige langsame
Entwicklung der Krankheit auch einen langsameren Verlauf und
schwerere Heilbarkeit erwarten; andern Theils aber sind auch die
langsam vorschreitenden Genesungen gewöhnlich haltbarer als die
plötzlich erfolgenden. — Ein unregelmässiger Wechsel auch stürmi-
scher Erscheinungen gilt immer für günstiger, als ein langes Beharren
in Einer Symptomengruppe, z. B. in steter heftiger Tobsucht, steter,
wenn auch nur mässiger fröhlicher Aufregung, steter Gefrässigkeit
oder anhaltendem Widerwillen gegen Speisen etc. — Als günstige
Zeichen bei Maniacis gelten die Rückkehr einer depressiven Stimmung,
z. B. vieles Weinen, indem eine wiederkehrende Schwermuthsperiode
zuweilen die Genesung einleitet, ebenso überall die Rückkehr der
Decenz, der früheren Neigungen und Liebhabereien (zu Arbeit, zu
Musik etc.), die unversehrte Erhaltung des Gedächtnisses, das Ver-
langen, die Angehörigen wieder zu sehen u. dgl. m. — Ein voll-
ständiges leibliches Wohlbefinden, von welchem freilich nur nach
umfassender und genauer Untersuchung aller Organe die Rede sein
kann, bei fortdauernder psychischer Störung wird mit Recht als ein
schlimmes Zeichen betrachtet; andererseits sieht man den Wieder-
eintritt früherer, aber während der Krankheit verschwundener körperli-
cher Beschwerden, theils nervöser (Zahnschmerzen, Kopfschmerzen etc.)
theils secretorischer Art (Oedeme, Blutungen) zuweilen, doch im
Ganzen nicht häufig mit entschiedener Besserung des geistigen Be-
findens, ja mit schneller Heilung zusammentreffen. Alle Remissionen
und allmählig länger dauernden Intermissionen sind natürlich günstig.
Das beste prognostische Zeichen aus den Symptomen aber ist das
Bewusstwerden der inneren Störung, das Gefühl krank zu sein, und
das Auftreten einer Reaction des (alten) Ich gegen die psychische
Störung, welche als ein krankhaft Aufgedrungenes bewusst wird;
wiewohl auch dann noch — wie Jacobi mit Recht bemerkt — es
an Kraft zur Durchführung dieser Reaction fehlen, und der zeitweise
Schimmer der Selbstbesinnung wieder in neuem Dunkel erlöschen
kann.

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[335/0349] und Verlauf der Krankheit. gesprochene Periodicität der Anfälle mit grösseren freien Zwischen- räumen entschieden ungünstig. Gewöhnlich werden bei jenen Kranken, welche anfangs alle Jahre, alle drei, sogar alle 7 Jahre in Irresein verfallen, mit der Zeit die lucida intervalla kürzer, die Recidiven immer länger und schwerer, und es wird mit jedem Anfalle die Prognose trauriger. — Bei den anhaltenden Fällen lässt im Durch- schnitt — doch nicht ohne Ausnahme — eine allmählige langsame Entwicklung der Krankheit auch einen langsameren Verlauf und schwerere Heilbarkeit erwarten; andern Theils aber sind auch die langsam vorschreitenden Genesungen gewöhnlich haltbarer als die plötzlich erfolgenden. — Ein unregelmässiger Wechsel auch stürmi- scher Erscheinungen gilt immer für günstiger, als ein langes Beharren in Einer Symptomengruppe, z. B. in steter heftiger Tobsucht, steter, wenn auch nur mässiger fröhlicher Aufregung, steter Gefrässigkeit oder anhaltendem Widerwillen gegen Speisen etc. — Als günstige Zeichen bei Maniacis gelten die Rückkehr einer depressiven Stimmung, z. B. vieles Weinen, indem eine wiederkehrende Schwermuthsperiode zuweilen die Genesung einleitet, ebenso überall die Rückkehr der Decenz, der früheren Neigungen und Liebhabereien (zu Arbeit, zu Musik etc.), die unversehrte Erhaltung des Gedächtnisses, das Ver- langen, die Angehörigen wieder zu sehen u. dgl. m. — Ein voll- ständiges leibliches Wohlbefinden, von welchem freilich nur nach umfassender und genauer Untersuchung aller Organe die Rede sein kann, bei fortdauernder psychischer Störung wird mit Recht als ein schlimmes Zeichen betrachtet; andererseits sieht man den Wieder- eintritt früherer, aber während der Krankheit verschwundener körperli- cher Beschwerden, theils nervöser (Zahnschmerzen, Kopfschmerzen etc.) theils secretorischer Art (Oedeme, Blutungen) zuweilen, doch im Ganzen nicht häufig mit entschiedener Besserung des geistigen Be- findens, ja mit schneller Heilung zusammentreffen. Alle Remissionen und allmählig länger dauernden Intermissionen sind natürlich günstig. Das beste prognostische Zeichen aus den Symptomen aber ist das Bewusstwerden der inneren Störung, das Gefühl krank zu sein, und das Auftreten einer Reaction des (alten) Ich gegen die psychische Störung, welche als ein krankhaft Aufgedrungenes bewusst wird; wiewohl auch dann noch — wie Jacobi mit Recht bemerkt — es an Kraft zur Durchführung dieser Reaction fehlen, und der zeitweise Schimmer der Selbstbesinnung wieder in neuem Dunkel erlöschen kann.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/349>, abgerufen am 27.04.2024.