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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Stimmungen und Wahnideen.
kann, während immer die bald zu besprechende psychische Ableitung
die Hauptsache bleibt. Ebenso vergeblich ja noch schädlicher als
gegen die krankhaften Affecte die banale Aufforderung sich zu über-
winden, ist der Versuch, die Wahnvorstellungen des Kranken direct
durch logisches Raisonnement zu bekämpfen. Jede directe, am mei-
sten vollends jede leidenschaftliche Discussion bestärkt gewöhnlich
den Wahn, indem sie den Kranken zur Rechtfertigung desselben, zum
Aufsuchen von Gründen für ihn auffordert, und irritirt und erbittert
um so mehr, je dringlicher und schärfer die Dialectik des Opponenten
auftritt, je mehr noch durch zugemischten Spott solche "Vernunft-
gründe" dem Kranken wehe thun. Nicht einmal durch Beweismittel
mittelst Augenscheins lassen sich die kranken Vorstellungen bezwin-
gen. Man breite vor dem Kranken, der sich gänzlich verarmt
wähnt, seine Gelder und Staatspapiere aus, man reisse vor einem
Andern die Wand nieder, in der er seine quälenden Feinde versteckt
glaubt; man wird zunächst beide irritiren und erst recht auf ihre
falschen Vorstellungen aufmerksam machen, man wird im günstigsten
Falle ein ganz äusserliches Zu- und Nachgeben erzielen, am ge-
wöhnlichsten aber bei den Kranken einen Wechsel mit einem oft
noch viel sehlimmeren Wahne bewirken. Alles dieses wird aus der
oben (pag. 58, 169 etc.) erörterten Art und Weise der Entstehung
der Wahnvorstellungen aus fix gewordenen Stimmungen, mit deren
Beseitigung allein dem Wahn die Axt an die Wurzel gelegt wird,
zur Genüge erhellen.

Einzelne Ausnahmen von der allgemeinen Regel, den Wahn
nicht durch directe äussere Beweismittel zu bekämpfen, finden statt
theils zuweilen bei Reconvalescenten, denen nach geschwundenem
Affect noch einzelne Bruchstücke irriger Vorstellungen übrig geblie-
ben, theils auch im ersten Anfang des Irreseins, wo die aufsteigen-
den Wahnideen dem Kranken noch als schwebende Bilder entgegen-
treten und wo das Ich im Kampfe gegen sie noch in der äusseren
Anschauung der wahren Sachlage Succurs finden kann. Allein auch
in diesen Fällen hoffe man Nichts von vielem Zureden und Ueberzeu-
genwollen; es ist hier weit besser den Kranken wie zufällig, so dass
er von selbst allein darauf zu kommen glaubt, auf das reale Verhal-
ten der Dinge aufmerksam zu machen; alles Polemisiren ermüdet und
quält, erregt Misstrauen und Abneigung.

Eine andere Art directer Bekämpfung des Wahns, nur für seltene
und verzweifelte Fälle aufzusparen, besteht in der gewaltsamen Re-
pression jeder Aeusserung der irrigen Vorstellungen, in einem gegen

Stimmungen und Wahnideen.
kann, während immer die bald zu besprechende psychische Ableitung
die Hauptsache bleibt. Ebenso vergeblich ja noch schädlicher als
gegen die krankhaften Affecte die banale Aufforderung sich zu über-
winden, ist der Versuch, die Wahnvorstellungen des Kranken direct
durch logisches Raisonnement zu bekämpfen. Jede directe, am mei-
sten vollends jede leidenschaftliche Discussion bestärkt gewöhnlich
den Wahn, indem sie den Kranken zur Rechtfertigung desselben, zum
Aufsuchen von Gründen für ihn auffordert, und irritirt und erbittert
um so mehr, je dringlicher und schärfer die Dialectik des Opponenten
auftritt, je mehr noch durch zugemischten Spott solche „Vernunft-
gründe“ dem Kranken wehe thun. Nicht einmal durch Beweismittel
mittelst Augenscheins lassen sich die kranken Vorstellungen bezwin-
gen. Man breite vor dem Kranken, der sich gänzlich verarmt
wähnt, seine Gelder und Staatspapiere aus, man reisse vor einem
Andern die Wand nieder, in der er seine quälenden Feinde versteckt
glaubt; man wird zunächst beide irritiren und erst recht auf ihre
falschen Vorstellungen aufmerksam machen, man wird im günstigsten
Falle ein ganz äusserliches Zu- und Nachgeben erzielen, am ge-
wöhnlichsten aber bei den Kranken einen Wechsel mit einem oft
noch viel sehlimmeren Wahne bewirken. Alles dieses wird aus der
oben (pag. 58, 169 etc.) erörterten Art und Weise der Entstehung
der Wahnvorstellungen aus fix gewordenen Stimmungen, mit deren
Beseitigung allein dem Wahn die Axt an die Wurzel gelegt wird,
zur Genüge erhellen.

Einzelne Ausnahmen von der allgemeinen Regel, den Wahn
nicht durch directe äussere Beweismittel zu bekämpfen, finden statt
theils zuweilen bei Reconvalescenten, denen nach geschwundenem
Affect noch einzelne Bruchstücke irriger Vorstellungen übrig geblie-
ben, theils auch im ersten Anfang des Irreseins, wo die aufsteigen-
den Wahnideen dem Kranken noch als schwebende Bilder entgegen-
treten und wo das Ich im Kampfe gegen sie noch in der äusseren
Anschauung der wahren Sachlage Succurs finden kann. Allein auch
in diesen Fällen hoffe man Nichts von vielem Zureden und Ueberzeu-
genwollen; es ist hier weit besser den Kranken wie zufällig, so dass
er von selbst allein darauf zu kommen glaubt, auf das reale Verhal-
ten der Dinge aufmerksam zu machen; alles Polemisiren ermüdet und
quält, erregt Misstrauen und Abneigung.

Eine andere Art directer Bekämpfung des Wahns, nur für seltene
und verzweifelte Fälle aufzusparen, besteht in der gewaltsamen Re-
pression jeder Aeusserung der irrigen Vorstellungen, in einem gegen

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[365/0379] Stimmungen und Wahnideen. kann, während immer die bald zu besprechende psychische Ableitung die Hauptsache bleibt. Ebenso vergeblich ja noch schädlicher als gegen die krankhaften Affecte die banale Aufforderung sich zu über- winden, ist der Versuch, die Wahnvorstellungen des Kranken direct durch logisches Raisonnement zu bekämpfen. Jede directe, am mei- sten vollends jede leidenschaftliche Discussion bestärkt gewöhnlich den Wahn, indem sie den Kranken zur Rechtfertigung desselben, zum Aufsuchen von Gründen für ihn auffordert, und irritirt und erbittert um so mehr, je dringlicher und schärfer die Dialectik des Opponenten auftritt, je mehr noch durch zugemischten Spott solche „Vernunft- gründe“ dem Kranken wehe thun. Nicht einmal durch Beweismittel mittelst Augenscheins lassen sich die kranken Vorstellungen bezwin- gen. Man breite vor dem Kranken, der sich gänzlich verarmt wähnt, seine Gelder und Staatspapiere aus, man reisse vor einem Andern die Wand nieder, in der er seine quälenden Feinde versteckt glaubt; man wird zunächst beide irritiren und erst recht auf ihre falschen Vorstellungen aufmerksam machen, man wird im günstigsten Falle ein ganz äusserliches Zu- und Nachgeben erzielen, am ge- wöhnlichsten aber bei den Kranken einen Wechsel mit einem oft noch viel sehlimmeren Wahne bewirken. Alles dieses wird aus der oben (pag. 58, 169 etc.) erörterten Art und Weise der Entstehung der Wahnvorstellungen aus fix gewordenen Stimmungen, mit deren Beseitigung allein dem Wahn die Axt an die Wurzel gelegt wird, zur Genüge erhellen. Einzelne Ausnahmen von der allgemeinen Regel, den Wahn nicht durch directe äussere Beweismittel zu bekämpfen, finden statt theils zuweilen bei Reconvalescenten, denen nach geschwundenem Affect noch einzelne Bruchstücke irriger Vorstellungen übrig geblie- ben, theils auch im ersten Anfang des Irreseins, wo die aufsteigen- den Wahnideen dem Kranken noch als schwebende Bilder entgegen- treten und wo das Ich im Kampfe gegen sie noch in der äusseren Anschauung der wahren Sachlage Succurs finden kann. Allein auch in diesen Fällen hoffe man Nichts von vielem Zureden und Ueberzeu- genwollen; es ist hier weit besser den Kranken wie zufällig, so dass er von selbst allein darauf zu kommen glaubt, auf das reale Verhal- ten der Dinge aufmerksam zu machen; alles Polemisiren ermüdet und quält, erregt Misstrauen und Abneigung. Eine andere Art directer Bekämpfung des Wahns, nur für seltene und verzweifelte Fälle aufzusparen, besteht in der gewaltsamen Re- pression jeder Aeusserung der irrigen Vorstellungen, in einem gegen

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/379>, abgerufen am 27.04.2024.