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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Rückbildung des Irreseins.
sich geltend zu machen und dem Ich die nöthige Ruhe gegeben sein.
Diess Alles ist nun auch bei den Geisteskranken nicht der Fall.
Durch die Gehirnaffection werden ihnen Stimmungen und Triebe
aufgedrungen, die zum Ausgangspunkte von Affecten werden; wenn
sich aus diesen wieder falsche Urtheile (fixe Ideen) erheben, so
können sie nicht berichtigt werden und der Kranke kann seine
Täuschung nicht einsehen; anfangs desswegen nicht, weil der anhal-
tende Affect den contrastirenden Vorstellungen nicht die nöthige Ruhe
gönnt, um sich gehörig entwickeln zu können, vielmehr mit seinem
längeren Bestehen immer mehr seine Folgen, die falschen Urtheile,
befestigt und consolidirt werden, später aber desswegen nicht, weil
jene falschen Urtheile integrirende Bestandtheile aller Vorstellungs-
complexe des Ich geworden sind (§. 23.).

Eine Unmöglichkeit, die Falschheit der krankhaften Vorstellungen einzusehen,
ist also bei jeder ausgebildeten Geisteskrankheit vorhanden. Die Sache fällt zum
grössten Theile zusammen mit dem in §. 23. erörterten Verluste der Besonnen-
heit. Eben damit aber haben die Irren auch den Verstand verloren, und
zwar nach Herbarts Ausdrucke, desswegen, weil "ihre Gedanken sich in ihrem
eigenen Zuge durch äussern oder innern Widerspruch gar nicht mehr stören
lassen." Auch dem Gesunden gehen allerlei Grillen, falsche Urtheile, thörichte
Gedanken durch den Kopf; aber er vermag sie, wenn er nicht gerade im Zustande
des Affects ist, ruhig zu bestätigen oder zu verwerfen.

Die Genesung vom Irresein erfolgt nun gewöhnlich nur in den
primären, aber allerdings oft eine Reihe von Jahren dauernden Pe-
rioden, wo es hauptsächlich auf affectartigen Zuständen beruht. Indem
durch Beseitigung der Gehirnkrankheit oder ihrer entfernteren organischen
Ursachen die krankhaften Stimmungen und Affecte schwinden, müssen
mit ihnen auch die falschen Urtheile, die auf sie basirt waren, fallen,
und die Vorstellungscomplexe des nun nicht mehr erschütterten Ich
treten unmittelbar in ihre alten Rechte ein. Werden aber erst zu
einer Zeit, wo die falschen Urtheile schon mannigfache Verknüpfungen
mit den Vorstellungscomplexen des Ich eingegangen haben, die orga-
nischen Ursachen der Gehirnkrankheit beseitigt, so kann der Kranke
zwar noch genesen; aber es ist ein langer und sehr allmähliger psy-
chologischer Process, bis durch Stärkung der früheren normalen Ge-
dankenrichtung sich nach und nach die begonnenen Verknüpfungen
der falschen Urtheile mit dem Ich lösen und diese sich ganz zurück-
drängen lassen (manche Reconvalescenten werden erst zu Hause, mit
dem Wiedereintritt in ihre alten Lebensverhältnisse, Geschäfte etc.
ganz gesund). Dann aber, wenn das alte Ich durch die krankhaften,
falschen Vorstellungen nach allen Seiten hin verunreinigt, verdorben

Die Rückbildung des Irreseins.
sich geltend zu machen und dem Ich die nöthige Ruhe gegeben sein.
Diess Alles ist nun auch bei den Geisteskranken nicht der Fall.
Durch die Gehirnaffection werden ihnen Stimmungen und Triebe
aufgedrungen, die zum Ausgangspunkte von Affecten werden; wenn
sich aus diesen wieder falsche Urtheile (fixe Ideen) erheben, so
können sie nicht berichtigt werden und der Kranke kann seine
Täuschung nicht einsehen; anfangs desswegen nicht, weil der anhal-
tende Affect den contrastirenden Vorstellungen nicht die nöthige Ruhe
gönnt, um sich gehörig entwickeln zu können, vielmehr mit seinem
längeren Bestehen immer mehr seine Folgen, die falschen Urtheile,
befestigt und consolidirt werden, später aber desswegen nicht, weil
jene falschen Urtheile integrirende Bestandtheile aller Vorstellungs-
complexe des Ich geworden sind (§. 23.).

Eine Unmöglichkeit, die Falschheit der krankhaften Vorstellungen einzusehen,
ist also bei jeder ausgebildeten Geisteskrankheit vorhanden. Die Sache fällt zum
grössten Theile zusammen mit dem in §. 23. erörterten Verluste der Besonnen-
heit. Eben damit aber haben die Irren auch den Verstand verloren, und
zwar nach Herbarts Ausdrucke, desswegen, weil „ihre Gedanken sich in ihrem
eigenen Zuge durch äussern oder innern Widerspruch gar nicht mehr stören
lassen.“ Auch dem Gesunden gehen allerlei Grillen, falsche Urtheile, thörichte
Gedanken durch den Kopf; aber er vermag sie, wenn er nicht gerade im Zustande
des Affects ist, ruhig zu bestätigen oder zu verwerfen.

Die Genesung vom Irresein erfolgt nun gewöhnlich nur in den
primären, aber allerdings oft eine Reihe von Jahren dauernden Pe-
rioden, wo es hauptsächlich auf affectartigen Zuständen beruht. Indem
durch Beseitigung der Gehirnkrankheit oder ihrer entfernteren organischen
Ursachen die krankhaften Stimmungen und Affecte schwinden, müssen
mit ihnen auch die falschen Urtheile, die auf sie basirt waren, fallen,
und die Vorstellungscomplexe des nun nicht mehr erschütterten Ich
treten unmittelbar in ihre alten Rechte ein. Werden aber erst zu
einer Zeit, wo die falschen Urtheile schon mannigfache Verknüpfungen
mit den Vorstellungscomplexen des Ich eingegangen haben, die orga-
nischen Ursachen der Gehirnkrankheit beseitigt, so kann der Kranke
zwar noch genesen; aber es ist ein langer und sehr allmähliger psy-
chologischer Process, bis durch Stärkung der früheren normalen Ge-
dankenrichtung sich nach und nach die begonnenen Verknüpfungen
der falschen Urtheile mit dem Ich lösen und diese sich ganz zurück-
drängen lassen (manche Reconvalescenten werden erst zu Hause, mit
dem Wiedereintritt in ihre alten Lebensverhältnisse, Geschäfte etc.
ganz gesund). Dann aber, wenn das alte Ich durch die krankhaften,
falschen Vorstellungen nach allen Seiten hin verunreinigt, verdorben

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[48/0062] Die Rückbildung des Irreseins. sich geltend zu machen und dem Ich die nöthige Ruhe gegeben sein. Diess Alles ist nun auch bei den Geisteskranken nicht der Fall. Durch die Gehirnaffection werden ihnen Stimmungen und Triebe aufgedrungen, die zum Ausgangspunkte von Affecten werden; wenn sich aus diesen wieder falsche Urtheile (fixe Ideen) erheben, so können sie nicht berichtigt werden und der Kranke kann seine Täuschung nicht einsehen; anfangs desswegen nicht, weil der anhal- tende Affect den contrastirenden Vorstellungen nicht die nöthige Ruhe gönnt, um sich gehörig entwickeln zu können, vielmehr mit seinem längeren Bestehen immer mehr seine Folgen, die falschen Urtheile, befestigt und consolidirt werden, später aber desswegen nicht, weil jene falschen Urtheile integrirende Bestandtheile aller Vorstellungs- complexe des Ich geworden sind (§. 23.). Eine Unmöglichkeit, die Falschheit der krankhaften Vorstellungen einzusehen, ist also bei jeder ausgebildeten Geisteskrankheit vorhanden. Die Sache fällt zum grössten Theile zusammen mit dem in §. 23. erörterten Verluste der Besonnen- heit. Eben damit aber haben die Irren auch den Verstand verloren, und zwar nach Herbarts Ausdrucke, desswegen, weil „ihre Gedanken sich in ihrem eigenen Zuge durch äussern oder innern Widerspruch gar nicht mehr stören lassen.“ Auch dem Gesunden gehen allerlei Grillen, falsche Urtheile, thörichte Gedanken durch den Kopf; aber er vermag sie, wenn er nicht gerade im Zustande des Affects ist, ruhig zu bestätigen oder zu verwerfen. Die Genesung vom Irresein erfolgt nun gewöhnlich nur in den primären, aber allerdings oft eine Reihe von Jahren dauernden Pe- rioden, wo es hauptsächlich auf affectartigen Zuständen beruht. Indem durch Beseitigung der Gehirnkrankheit oder ihrer entfernteren organischen Ursachen die krankhaften Stimmungen und Affecte schwinden, müssen mit ihnen auch die falschen Urtheile, die auf sie basirt waren, fallen, und die Vorstellungscomplexe des nun nicht mehr erschütterten Ich treten unmittelbar in ihre alten Rechte ein. Werden aber erst zu einer Zeit, wo die falschen Urtheile schon mannigfache Verknüpfungen mit den Vorstellungscomplexen des Ich eingegangen haben, die orga- nischen Ursachen der Gehirnkrankheit beseitigt, so kann der Kranke zwar noch genesen; aber es ist ein langer und sehr allmähliger psy- chologischer Process, bis durch Stärkung der früheren normalen Ge- dankenrichtung sich nach und nach die begonnenen Verknüpfungen der falschen Urtheile mit dem Ich lösen und diese sich ganz zurück- drängen lassen (manche Reconvalescenten werden erst zu Hause, mit dem Wiedereintritt in ihre alten Lebensverhältnisse, Geschäfte etc. ganz gesund). Dann aber, wenn das alte Ich durch die krankhaften, falschen Vorstellungen nach allen Seiten hin verunreinigt, verdorben

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/62>, abgerufen am 26.04.2024.