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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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dann, weil nach bisher bekannten Thatsachen durch alle jene unmit-
telbaren Reize auf den Nerven in der Retina zwar Lichtflecke, feu-
rige Kugeln, Farbenbilder u. dergl., aber keine bestimmten, compli-
cirten Gestalten (Menschen, Häuser, Bäume etc.), im Ohr zwar Sau-
sen, höhere oder tiefere Töne, aber keine geformten Worte oder
Melodieen erzeugt werden können. Zu letzterem gehört etwas Wei-
teres, nämlich das Mitwirken des Vorstellens, dem allein solche For-
men, aus früheren Eindrücken behalten oder neu erzeugt, zukommen
können. Jene Projection des Vorstellens, durch welche die entspre-
chenden sinnlichen Bilder in dasselbe eingehen, haben wir (§. 15.)
als Thätigkeit der Phantasie kennen gelernt; während aber in der
Regel diese Acte darin bestehen, dass nur vorgestellte Abgrenzungen
und Formen im Seh- oder Gehörfeld entstehen und wir ebendamit
nur sehr schwache und abgeblasste Bilder erhalten, so werden hier,
durch mannigfaltige Uebergänge der Stärke und Lebendigkeit vermittelt,
vom Vorstellen so starke Sinnesthätigkeiten geweckt, dass nun das
Eingebildete wirklich leuchtend und farbig, klingend und melodisch
wird. Der Sitz aller dieser Vorgänge, der Sitz der Phantasie ist
nicht die Retina oder die Gehörnervenausbreitung, sondern das Gehirn
selbst und in demselben ohne Zweifel die centralen Ausbreitungen
der Sinnesnerven. So müssen wir, im Einklange mit den wichtigen
Beobachtungen von Esquirol, die Hallucinationen als cerebale Vor-
gänge betrachten.

Indessen ist damit die Sache keineswegs erschöpft. Es gibt
nämlich eine Anzahl anderer Thatsachen, welche -- ganz besonders
deutlich bei den Gesichtshallucinationen -- darauf hindeuten, dass
die peripherischen Ausbreitungen der betreffenden Nerven, wo solche
unverletzt sind, sich beim Sinnendelirium durchaus nicht unthätig
verhalten. Einmal scheinen krankhafte Vorgänge im Auge, welche
die Retina mitafficiren, ursprüngliche Anlässe zur Erzeugung von Hal-
lucinationen (oder vielmehr Illusionen, die sich dann aber nicht deut-
lich von jenen trennen lassen) zu geben. So namentlich in den

Nichtsdestoweniger sah sie die fremdartigsten Dinge. Sie starb plötzlich; ich
fand bei der Section die nervi optici in ihrem ganzen Verlaufe atrophisch.
In diesem Fall konnten gewiss keine äusseren Eindrücke stattfinden. Ebenso
geht es mit den Tauben; sie glauben sprechen zu hören. Wir haben in diesem
Augenblick in der Salpetriere zwei gänzlich taube Frauen, deren einziges Delirium
darin besteht, dass sie Tag und Nacht verschiedene Personen hören, mit denen
sie sich zanken; oft werden sie selbst dadurch wüthend." Die Geisteskrankheiten
von Bernhard. I. p. 116--17.

der Hallucinationen.
dann, weil nach bisher bekannten Thatsachen durch alle jene unmit-
telbaren Reize auf den Nerven in der Retina zwar Lichtflecke, feu-
rige Kugeln, Farbenbilder u. dergl., aber keine bestimmten, compli-
cirten Gestalten (Menschen, Häuser, Bäume etc.), im Ohr zwar Sau-
sen, höhere oder tiefere Töne, aber keine geformten Worte oder
Melodieen erzeugt werden können. Zu letzterem gehört etwas Wei-
teres, nämlich das Mitwirken des Vorstellens, dem allein solche For-
men, aus früheren Eindrücken behalten oder neu erzeugt, zukommen
können. Jene Projection des Vorstellens, durch welche die entspre-
chenden sinnlichen Bilder in dasselbe eingehen, haben wir (§. 15.)
als Thätigkeit der Phantasie kennen gelernt; während aber in der
Regel diese Acte darin bestehen, dass nur vorgestellte Abgrenzungen
und Formen im Seh- oder Gehörfeld entstehen und wir ebendamit
nur sehr schwache und abgeblasste Bilder erhalten, so werden hier,
durch mannigfaltige Uebergänge der Stärke und Lebendigkeit vermittelt,
vom Vorstellen so starke Sinnesthätigkeiten geweckt, dass nun das
Eingebildete wirklich leuchtend und farbig, klingend und melodisch
wird. Der Sitz aller dieser Vorgänge, der Sitz der Phantasie ist
nicht die Retina oder die Gehörnervenausbreitung, sondern das Gehirn
selbst und in demselben ohne Zweifel die centralen Ausbreitungen
der Sinnesnerven. So müssen wir, im Einklange mit den wichtigen
Beobachtungen von Esquirol, die Hallucinationen als cerebale Vor-
gänge betrachten.

Indessen ist damit die Sache keineswegs erschöpft. Es gibt
nämlich eine Anzahl anderer Thatsachen, welche — ganz besonders
deutlich bei den Gesichtshallucinationen — darauf hindeuten, dass
die peripherischen Ausbreitungen der betreffenden Nerven, wo solche
unverletzt sind, sich beim Sinnendelirium durchaus nicht unthätig
verhalten. Einmal scheinen krankhafte Vorgänge im Auge, welche
die Retina mitafficiren, ursprüngliche Anlässe zur Erzeugung von Hal-
lucinationen (oder vielmehr Illusionen, die sich dann aber nicht deut-
lich von jenen trennen lassen) zu geben. So namentlich in den

Nichtsdestoweniger sah sie die fremdartigsten Dinge. Sie starb plötzlich; ich
fand bei der Section die nervi optici in ihrem ganzen Verlaufe atrophisch.
In diesem Fall konnten gewiss keine äusseren Eindrücke stattfinden. Ebenso
geht es mit den Tauben; sie glauben sprechen zu hören. Wir haben in diesem
Augenblick in der Salpetrière zwei gänzlich taube Frauen, deren einziges Delirium
darin besteht, dass sie Tag und Nacht verschiedene Personen hören, mit denen
sie sich zanken; oft werden sie selbst dadurch wüthend.“ Die Geisteskrankheiten
von Bernhard. I. p. 116—17.
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[71/0085] der Hallucinationen. dann, weil nach bisher bekannten Thatsachen durch alle jene unmit- telbaren Reize auf den Nerven in der Retina zwar Lichtflecke, feu- rige Kugeln, Farbenbilder u. dergl., aber keine bestimmten, compli- cirten Gestalten (Menschen, Häuser, Bäume etc.), im Ohr zwar Sau- sen, höhere oder tiefere Töne, aber keine geformten Worte oder Melodieen erzeugt werden können. Zu letzterem gehört etwas Wei- teres, nämlich das Mitwirken des Vorstellens, dem allein solche For- men, aus früheren Eindrücken behalten oder neu erzeugt, zukommen können. Jene Projection des Vorstellens, durch welche die entspre- chenden sinnlichen Bilder in dasselbe eingehen, haben wir (§. 15.) als Thätigkeit der Phantasie kennen gelernt; während aber in der Regel diese Acte darin bestehen, dass nur vorgestellte Abgrenzungen und Formen im Seh- oder Gehörfeld entstehen und wir ebendamit nur sehr schwache und abgeblasste Bilder erhalten, so werden hier, durch mannigfaltige Uebergänge der Stärke und Lebendigkeit vermittelt, vom Vorstellen so starke Sinnesthätigkeiten geweckt, dass nun das Eingebildete wirklich leuchtend und farbig, klingend und melodisch wird. Der Sitz aller dieser Vorgänge, der Sitz der Phantasie ist nicht die Retina oder die Gehörnervenausbreitung, sondern das Gehirn selbst und in demselben ohne Zweifel die centralen Ausbreitungen der Sinnesnerven. So müssen wir, im Einklange mit den wichtigen Beobachtungen von Esquirol, die Hallucinationen als cerebale Vor- gänge betrachten. Indessen ist damit die Sache keineswegs erschöpft. Es gibt nämlich eine Anzahl anderer Thatsachen, welche — ganz besonders deutlich bei den Gesichtshallucinationen — darauf hindeuten, dass die peripherischen Ausbreitungen der betreffenden Nerven, wo solche unverletzt sind, sich beim Sinnendelirium durchaus nicht unthätig verhalten. Einmal scheinen krankhafte Vorgänge im Auge, welche die Retina mitafficiren, ursprüngliche Anlässe zur Erzeugung von Hal- lucinationen (oder vielmehr Illusionen, die sich dann aber nicht deut- lich von jenen trennen lassen) zu geben. So namentlich in den *) *) Nichtsdestoweniger sah sie die fremdartigsten Dinge. Sie starb plötzlich; ich fand bei der Section die nervi optici in ihrem ganzen Verlaufe atrophisch. In diesem Fall konnten gewiss keine äusseren Eindrücke stattfinden. Ebenso geht es mit den Tauben; sie glauben sprechen zu hören. Wir haben in diesem Augenblick in der Salpetrière zwei gänzlich taube Frauen, deren einziges Delirium darin besteht, dass sie Tag und Nacht verschiedene Personen hören, mit denen sie sich zanken; oft werden sie selbst dadurch wüthend.“ Die Geisteskrankheiten von Bernhard. I. p. 116—17.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/85>, abgerufen am 27.04.2024.