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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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Lichtes sah er ein altes eisgraues Männchen, das ein von buntfarbigen Lappen zusammengesetztes Kleid an hatte. 'Wer seid ihr, und was wollt ihr?' fragte es mit einer schnarrenden Stimme. 'Jch bin ein armer Schneider,' antwortete er, 'den die Nacht hier in der Wildnis überfallen hat, und bitte euch inständig mich bis Morgen in eurer Hütte aufzunehmen.' 'Geh deiner Wege,' erwiederte der Alte mit mürrischem Tone, 'mit Landstreichern will ich nichts zu schaffen haben; suche dir anderwärts ein Unterkommen.' Nach diesen Worten wollte er wieder in sein Haus schlüpfen, aber der Schneider hielt ihn am Rockzipfel fest und bat so beweglich, daß der Alte, der so böse nicht war als er sich anstellte, endlich erweicht ward und ihn mit in seine Hütte nahm, wo er ihm zu essen gab und dann in einem Winkel ein ganz gutes Nachtlager anwies.

Der müde Schneider brauchte keines Einwiegens, sondern schlief sanft bis an den Morgen, würde auch noch nicht an das Aufstehen gedacht haben, wenn er nicht von einem lauten Lärm wäre aufgeschreckt worden. Ein heftiges Schreien und Brüllen drang durch die dünnen Wände des Hauses. Der Schneider, den ein unerwarteter Muth überkam, sprang auf, zog in der Hast seine Kleider an und eilte hinaus. Da erblickte er nahe bei dem Häuschen einen großen schwarzen Stier und einen schönen Hirsch, die in dem heftigsten Kampfe begriffen waren. Sie giengen mit so großer Wuth aufeinander los, daß von ihrem Getrampel der Boden erzitterte, und die Luft von ihrem Geschrei erdrönte. Es war lange ungewis, welcher von beiden den Sieg davon tragen würde: endlich stieß der Hirsch seinem Gegner das Geweih in den Leib, worauf der Stier mit entsetzlichem Brüllen zur Erde sank, und durch einige Schläge des Hirsches völlig getödtet ward.

Der Schneider, welcher dem Kampfe mit Erstaunen zugesehen hatte, stand noch unbeweglich da, als der Hirsch in vollen Sprüngen

Lichtes sah er ein altes eisgraues Männchen, das ein von buntfarbigen Lappen zusammengesetztes Kleid an hatte. ‘Wer seid ihr, und was wollt ihr?’ fragte es mit einer schnarrenden Stimme. ‘Jch bin ein armer Schneider,’ antwortete er, ‘den die Nacht hier in der Wildnis überfallen hat, und bitte euch inständig mich bis Morgen in eurer Hütte aufzunehmen.’ ‘Geh deiner Wege,’ erwiederte der Alte mit mürrischem Tone, ‘mit Landstreichern will ich nichts zu schaffen haben; suche dir anderwärts ein Unterkommen.’ Nach diesen Worten wollte er wieder in sein Haus schlüpfen, aber der Schneider hielt ihn am Rockzipfel fest und bat so beweglich, daß der Alte, der so böse nicht war als er sich anstellte, endlich erweicht ward und ihn mit in seine Hütte nahm, wo er ihm zu essen gab und dann in einem Winkel ein ganz gutes Nachtlager anwies.

Der müde Schneider brauchte keines Einwiegens, sondern schlief sanft bis an den Morgen, würde auch noch nicht an das Aufstehen gedacht haben, wenn er nicht von einem lauten Lärm wäre aufgeschreckt worden. Ein heftiges Schreien und Brüllen drang durch die dünnen Wände des Hauses. Der Schneider, den ein unerwarteter Muth überkam, sprang auf, zog in der Hast seine Kleider an und eilte hinaus. Da erblickte er nahe bei dem Häuschen einen großen schwarzen Stier und einen schönen Hirsch, die in dem heftigsten Kampfe begriffen waren. Sie giengen mit so großer Wuth aufeinander los, daß von ihrem Getrampel der Boden erzitterte, und die Luft von ihrem Geschrei erdrönte. Es war lange ungewis, welcher von beiden den Sieg davon tragen würde: endlich stieß der Hirsch seinem Gegner das Geweih in den Leib, worauf der Stier mit entsetzlichem Brüllen zur Erde sank, und durch einige Schläge des Hirsches völlig getödtet ward.

Der Schneider, welcher dem Kampfe mit Erstaunen zugesehen hatte, stand noch unbeweglich da, als der Hirsch in vollen Sprüngen

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[306/0318] Lichtes sah er ein altes eisgraues Männchen, das ein von buntfarbigen Lappen zusammengesetztes Kleid an hatte. ‘Wer seid ihr, und was wollt ihr?’ fragte es mit einer schnarrenden Stimme. ‘Jch bin ein armer Schneider,’ antwortete er, ‘den die Nacht hier in der Wildnis überfallen hat, und bitte euch inständig mich bis Morgen in eurer Hütte aufzunehmen.’ ‘Geh deiner Wege,’ erwiederte der Alte mit mürrischem Tone, ‘mit Landstreichern will ich nichts zu schaffen haben; suche dir anderwärts ein Unterkommen.’ Nach diesen Worten wollte er wieder in sein Haus schlüpfen, aber der Schneider hielt ihn am Rockzipfel fest und bat so beweglich, daß der Alte, der so böse nicht war als er sich anstellte, endlich erweicht ward und ihn mit in seine Hütte nahm, wo er ihm zu essen gab und dann in einem Winkel ein ganz gutes Nachtlager anwies. Der müde Schneider brauchte keines Einwiegens, sondern schlief sanft bis an den Morgen, würde auch noch nicht an das Aufstehen gedacht haben, wenn er nicht von einem lauten Lärm wäre aufgeschreckt worden. Ein heftiges Schreien und Brüllen drang durch die dünnen Wände des Hauses. Der Schneider, den ein unerwarteter Muth überkam, sprang auf, zog in der Hast seine Kleider an und eilte hinaus. Da erblickte er nahe bei dem Häuschen einen großen schwarzen Stier und einen schönen Hirsch, die in dem heftigsten Kampfe begriffen waren. Sie giengen mit so großer Wuth aufeinander los, daß von ihrem Getrampel der Boden erzitterte, und die Luft von ihrem Geschrei erdrönte. Es war lange ungewis, welcher von beiden den Sieg davon tragen würde: endlich stieß der Hirsch seinem Gegner das Geweih in den Leib, worauf der Stier mit entsetzlichem Brüllen zur Erde sank, und durch einige Schläge des Hirsches völlig getödtet ward. Der Schneider, welcher dem Kampfe mit Erstaunen zugesehen hatte, stand noch unbeweglich da, als der Hirsch in vollen Sprüngen

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/318>, abgerufen am 26.04.2024.