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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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§. 152. Völkerrecht im Zustand des Unfriedens.
Stärkeren und die Rechtlosigkeit der Schwächeren hervor. Und
nicht bloß in der Staatenpraxis streitet man über die Frage, son-
dern auch die Theorie ist es, welche noch nicht zu einer Verstän-
digung über die Principien gelangt ist. Zwar ist es ihnen gelun-
gen sich in die Hülle von gesetzlichen Vorschriften und von Rich-
tersprüchen in einzelnen Landen einzukleiden und dadurch eine ge-
wisse imponirende Auctorität zu erlangen; dennoch sind diese Ge-
setze und Urtheilssprüche nichts als Acte der Politik einzelner Staa-
ten, nicht bindend für die andern, ausgenommen wenn sie der
schwächere Theil sind und die Vollziehung jener Gesetze, ihrer Un-
gerechtigkeit ungeachtet, zu befürchten haben.

Nirgends sieht die Wissenschaft des Völkerrechts eine unge-
bahntere Straße vor sich; keine Uebereinstimmung der Praxis und
Verträge, keine der Denker! und doch kann es auch hier an all-
gemein giltigen Grundsätzen für die Staaten, womit sich unser
System beschäftigt, nicht fehlen, wenn überhaupt ein Recht unter
ihnen bestehen soll, wenn die Rechtsverhältnisse unter ihnen, wie
sie bisher festgestellt wurden, in sich wahr sind und der Wirklich-
keit entsprechend. Aus dieser wollen wir daher auch jetzt die Lö-
sung der einzelnen Streitfragen vorzüglich schöpfen, indem wir die
in der Staatenpraxis gegenseitig und allgemein angenommenen
Grundsätze als Gesetz des gemeinen Willens gelten lassen, und nur
wo ein solcher nicht erweislich ist, eine Lösung aus dem vorange-
schickten Ganzen versuchen.

Entwickelung der Praxis. 1

152. Die Geschichte unserer Frage beginnt vorzüglich erst mit
dem sechzehnten Jahrhundert, seitdem nämlich der Seehandel nicht
mehr bloß in den Händen einiger weniger begünstigter thatenrei-
cher Nationen, Gesellschaften und Städte verblieb, sondern eine
allgemein anziehende Kraft auf jede Nation ausübte, als eine Haupt-
quelle des Wohlstandes der Nationen erkannt und von den Re-
gierungen befördert. Der Wettkampf der Interessen, welcher hier-
durch hervorgerufen ward, erzeugte in den Staaten, die dazu Ge-
legenheit hatten, sowohl eine Vermehrung der Handels- wie auch
der Kriegsmarine und einen eifersüchtigen Kampf der Nationen

1 Das Werk von Mr. Wheaton, histoire des progres du dr. des gens lie-
fert hierüber schätzenswerthe Materialien.

§. 152. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.
Stärkeren und die Rechtloſigkeit der Schwächeren hervor. Und
nicht bloß in der Staatenpraxis ſtreitet man über die Frage, ſon-
dern auch die Theorie iſt es, welche noch nicht zu einer Verſtän-
digung über die Principien gelangt iſt. Zwar iſt es ihnen gelun-
gen ſich in die Hülle von geſetzlichen Vorſchriften und von Rich-
terſprüchen in einzelnen Landen einzukleiden und dadurch eine ge-
wiſſe imponirende Auctorität zu erlangen; dennoch ſind dieſe Ge-
ſetze und Urtheilsſprüche nichts als Acte der Politik einzelner Staa-
ten, nicht bindend für die andern, ausgenommen wenn ſie der
ſchwächere Theil ſind und die Vollziehung jener Geſetze, ihrer Un-
gerechtigkeit ungeachtet, zu befürchten haben.

Nirgends ſieht die Wiſſenſchaft des Völkerrechts eine unge-
bahntere Straße vor ſich; keine Uebereinſtimmung der Praxis und
Verträge, keine der Denker! und doch kann es auch hier an all-
gemein giltigen Grundſätzen für die Staaten, womit ſich unſer
Syſtem beſchäftigt, nicht fehlen, wenn überhaupt ein Recht unter
ihnen beſtehen ſoll, wenn die Rechtsverhältniſſe unter ihnen, wie
ſie bisher feſtgeſtellt wurden, in ſich wahr ſind und der Wirklich-
keit entſprechend. Aus dieſer wollen wir daher auch jetzt die Lö-
ſung der einzelnen Streitfragen vorzüglich ſchöpfen, indem wir die
in der Staatenpraxis gegenſeitig und allgemein angenommenen
Grundſätze als Geſetz des gemeinen Willens gelten laſſen, und nur
wo ein ſolcher nicht erweislich iſt, eine Löſung aus dem vorange-
ſchickten Ganzen verſuchen.

Entwickelung der Praxis. 1

152. Die Geſchichte unſerer Frage beginnt vorzüglich erſt mit
dem ſechzehnten Jahrhundert, ſeitdem nämlich der Seehandel nicht
mehr bloß in den Händen einiger weniger begünſtigter thatenrei-
cher Nationen, Geſellſchaften und Städte verblieb, ſondern eine
allgemein anziehende Kraft auf jede Nation ausübte, als eine Haupt-
quelle des Wohlſtandes der Nationen erkannt und von den Re-
gierungen befördert. Der Wettkampf der Intereſſen, welcher hier-
durch hervorgerufen ward, erzeugte in den Staaten, die dazu Ge-
legenheit hatten, ſowohl eine Vermehrung der Handels- wie auch
der Kriegsmarine und einen eiferſüchtigen Kampf der Nationen

1 Das Werk von Mr. Wheaton, histoire des progrès du dr. des gens lie-
fert hierüber ſchätzenswerthe Materialien.
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[253/0277] §. 152. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens. Stärkeren und die Rechtloſigkeit der Schwächeren hervor. Und nicht bloß in der Staatenpraxis ſtreitet man über die Frage, ſon- dern auch die Theorie iſt es, welche noch nicht zu einer Verſtän- digung über die Principien gelangt iſt. Zwar iſt es ihnen gelun- gen ſich in die Hülle von geſetzlichen Vorſchriften und von Rich- terſprüchen in einzelnen Landen einzukleiden und dadurch eine ge- wiſſe imponirende Auctorität zu erlangen; dennoch ſind dieſe Ge- ſetze und Urtheilsſprüche nichts als Acte der Politik einzelner Staa- ten, nicht bindend für die andern, ausgenommen wenn ſie der ſchwächere Theil ſind und die Vollziehung jener Geſetze, ihrer Un- gerechtigkeit ungeachtet, zu befürchten haben. Nirgends ſieht die Wiſſenſchaft des Völkerrechts eine unge- bahntere Straße vor ſich; keine Uebereinſtimmung der Praxis und Verträge, keine der Denker! und doch kann es auch hier an all- gemein giltigen Grundſätzen für die Staaten, womit ſich unſer Syſtem beſchäftigt, nicht fehlen, wenn überhaupt ein Recht unter ihnen beſtehen ſoll, wenn die Rechtsverhältniſſe unter ihnen, wie ſie bisher feſtgeſtellt wurden, in ſich wahr ſind und der Wirklich- keit entſprechend. Aus dieſer wollen wir daher auch jetzt die Lö- ſung der einzelnen Streitfragen vorzüglich ſchöpfen, indem wir die in der Staatenpraxis gegenſeitig und allgemein angenommenen Grundſätze als Geſetz des gemeinen Willens gelten laſſen, und nur wo ein ſolcher nicht erweislich iſt, eine Löſung aus dem vorange- ſchickten Ganzen verſuchen. Entwickelung der Praxis. 1 152. Die Geſchichte unſerer Frage beginnt vorzüglich erſt mit dem ſechzehnten Jahrhundert, ſeitdem nämlich der Seehandel nicht mehr bloß in den Händen einiger weniger begünſtigter thatenrei- cher Nationen, Geſellſchaften und Städte verblieb, ſondern eine allgemein anziehende Kraft auf jede Nation ausübte, als eine Haupt- quelle des Wohlſtandes der Nationen erkannt und von den Re- gierungen befördert. Der Wettkampf der Intereſſen, welcher hier- durch hervorgerufen ward, erzeugte in den Staaten, die dazu Ge- legenheit hatten, ſowohl eine Vermehrung der Handels- wie auch der Kriegsmarine und einen eiferſüchtigen Kampf der Nationen 1 Das Werk von Mr. Wheaton, histoire des progrès du dr. des gens lie- fert hierüber ſchätzenswerthe Materialien.

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/277>, abgerufen am 27.04.2024.