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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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§. 234. Die Formen des völkerrechtlichen Verkehres.
eigentlich Tongebenden gehören, jedoch mit ihnen rivalisiren können,
so besteht ihre Hauptaufgabe darin, sich in einem billigen Gleichge-
wicht zu erhalten und sich wohl zu hüten, nicht in den Ton einer
herrschenden Macht zu verfallen. Sie haben dabei den Vortheil,
daß sie bei weitem eher Bundesgenossen finden als die Tonange-
benden, ein Vortheil welcher leicht durch Ueberschreitung der Gren-
zen ihrer Bedeutsamkeit verscherzt werden kann.

Mächte des zweiten Ranges haben meist ein natürliches ge-
meinschaftliches Interesse unter einander, nämlich soviel als mög-
lich Einmischungen und Uebermacht der Staaten ersten Ranges
von sich entfernt zu halten. Befindet sich eine der ersteren in der
Mitte mehrerer Großmächte, so muß sie ihre Freundschaft oder
Neutralität stets theuer verkaufen. Erringt eine solche Macht un-
ter glücklichen Conjuncturen Vortheile, so ist es weise, sich daran
genügen zu lassen und nicht nach dem oft betrüglichen Schimmer
einer Großmacht zu streben. Die innere Vollendung des Staates
ist es, was die Politik solcher Mächte vorzüglich zu erstreben hat.

Mächte dritten Ranges haben hauptsächlich nur an ihre unge-
störte Erhaltung zu denken. Neutralität also, oder wenn diese un-
möglich wäre, feste Anschließung an einen größeren, Vertrauen bie-
tenden Staat, wird hier die Hauptrichtung der äußeren Politik sein
müssen.

Allen Staatsmännern muß es aber in die Seele geschrieben
und die stete Triebfeder ihrer Handelsweise sein, die Ehre und das
Wohl ihres Staates bis zum letzten Augenblick festzuhalten und
zu suchen, demnach auch nie vor der Gefahr zu zittern, sondern
sie zu bekämpfen. Sie müssen die Ereignisse kommen sehen und
richtig würdigen, aber sie nicht machen wollen. Nichts ist für die
Staaten und das Wohl der Völker so nachtheilig, als Geschäftig-
keit der Diplomatie, blos um Etwas zu thun. Die Geschichte des
vorigen Jahrhunderts liefert hiergegen warnende Beispiele. Die
damals herrschende Vertragssucht hat nichts Großes geleistet, son-
dern oft nur Verwirrungen und Mißverständnisse herbeigeführt. 1
Schädlich ist auch zur selben Zeit mehrere Händel oder Angelegen-
heiten zu haben. Ein erreichbares Ziel mit aller Kraftanstrengung
verfolgen, unter Beiseitestellung der minder erheblichen oder ent-

1 Mably I, 10. und des Grafen Lynar Staatsschriften I, 216.

§. 234. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.
eigentlich Tongebenden gehören, jedoch mit ihnen rivaliſiren können,
ſo beſteht ihre Hauptaufgabe darin, ſich in einem billigen Gleichge-
wicht zu erhalten und ſich wohl zu hüten, nicht in den Ton einer
herrſchenden Macht zu verfallen. Sie haben dabei den Vortheil,
daß ſie bei weitem eher Bundesgenoſſen finden als die Tonange-
benden, ein Vortheil welcher leicht durch Ueberſchreitung der Gren-
zen ihrer Bedeutſamkeit verſcherzt werden kann.

Mächte des zweiten Ranges haben meiſt ein natürliches ge-
meinſchaftliches Intereſſe unter einander, nämlich ſoviel als mög-
lich Einmiſchungen und Uebermacht der Staaten erſten Ranges
von ſich entfernt zu halten. Befindet ſich eine der erſteren in der
Mitte mehrerer Großmächte, ſo muß ſie ihre Freundſchaft oder
Neutralität ſtets theuer verkaufen. Erringt eine ſolche Macht un-
ter glücklichen Conjuncturen Vortheile, ſo iſt es weiſe, ſich daran
genügen zu laſſen und nicht nach dem oft betrüglichen Schimmer
einer Großmacht zu ſtreben. Die innere Vollendung des Staates
iſt es, was die Politik ſolcher Mächte vorzüglich zu erſtreben hat.

Mächte dritten Ranges haben hauptſächlich nur an ihre unge-
ſtörte Erhaltung zu denken. Neutralität alſo, oder wenn dieſe un-
möglich wäre, feſte Anſchließung an einen größeren, Vertrauen bie-
tenden Staat, wird hier die Hauptrichtung der äußeren Politik ſein
müſſen.

Allen Staatsmännern muß es aber in die Seele geſchrieben
und die ſtete Triebfeder ihrer Handelsweiſe ſein, die Ehre und das
Wohl ihres Staates bis zum letzten Augenblick feſtzuhalten und
zu ſuchen, demnach auch nie vor der Gefahr zu zittern, ſondern
ſie zu bekämpfen. Sie müſſen die Ereigniſſe kommen ſehen und
richtig würdigen, aber ſie nicht machen wollen. Nichts iſt für die
Staaten und das Wohl der Völker ſo nachtheilig, als Geſchäftig-
keit der Diplomatie, blos um Etwas zu thun. Die Geſchichte des
vorigen Jahrhunderts liefert hiergegen warnende Beiſpiele. Die
damals herrſchende Vertragsſucht hat nichts Großes geleiſtet, ſon-
dern oft nur Verwirrungen und Mißverſtändniſſe herbeigeführt. 1
Schädlich iſt auch zur ſelben Zeit mehrere Händel oder Angelegen-
heiten zu haben. Ein erreichbares Ziel mit aller Kraftanſtrengung
verfolgen, unter Beiſeiteſtellung der minder erheblichen oder ent-

1 Mably I, 10. und des Grafen Lynar Staatsſchriften I, 216.
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[381/0405] §. 234. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres. eigentlich Tongebenden gehören, jedoch mit ihnen rivaliſiren können, ſo beſteht ihre Hauptaufgabe darin, ſich in einem billigen Gleichge- wicht zu erhalten und ſich wohl zu hüten, nicht in den Ton einer herrſchenden Macht zu verfallen. Sie haben dabei den Vortheil, daß ſie bei weitem eher Bundesgenoſſen finden als die Tonange- benden, ein Vortheil welcher leicht durch Ueberſchreitung der Gren- zen ihrer Bedeutſamkeit verſcherzt werden kann. Mächte des zweiten Ranges haben meiſt ein natürliches ge- meinſchaftliches Intereſſe unter einander, nämlich ſoviel als mög- lich Einmiſchungen und Uebermacht der Staaten erſten Ranges von ſich entfernt zu halten. Befindet ſich eine der erſteren in der Mitte mehrerer Großmächte, ſo muß ſie ihre Freundſchaft oder Neutralität ſtets theuer verkaufen. Erringt eine ſolche Macht un- ter glücklichen Conjuncturen Vortheile, ſo iſt es weiſe, ſich daran genügen zu laſſen und nicht nach dem oft betrüglichen Schimmer einer Großmacht zu ſtreben. Die innere Vollendung des Staates iſt es, was die Politik ſolcher Mächte vorzüglich zu erſtreben hat. Mächte dritten Ranges haben hauptſächlich nur an ihre unge- ſtörte Erhaltung zu denken. Neutralität alſo, oder wenn dieſe un- möglich wäre, feſte Anſchließung an einen größeren, Vertrauen bie- tenden Staat, wird hier die Hauptrichtung der äußeren Politik ſein müſſen. Allen Staatsmännern muß es aber in die Seele geſchrieben und die ſtete Triebfeder ihrer Handelsweiſe ſein, die Ehre und das Wohl ihres Staates bis zum letzten Augenblick feſtzuhalten und zu ſuchen, demnach auch nie vor der Gefahr zu zittern, ſondern ſie zu bekämpfen. Sie müſſen die Ereigniſſe kommen ſehen und richtig würdigen, aber ſie nicht machen wollen. Nichts iſt für die Staaten und das Wohl der Völker ſo nachtheilig, als Geſchäftig- keit der Diplomatie, blos um Etwas zu thun. Die Geſchichte des vorigen Jahrhunderts liefert hiergegen warnende Beiſpiele. Die damals herrſchende Vertragsſucht hat nichts Großes geleiſtet, ſon- dern oft nur Verwirrungen und Mißverſtändniſſe herbeigeführt. 1 Schädlich iſt auch zur ſelben Zeit mehrere Händel oder Angelegen- heiten zu haben. Ein erreichbares Ziel mit aller Kraftanſtrengung verfolgen, unter Beiſeiteſtellung der minder erheblichen oder ent- 1 Mably I, 10. und des Grafen Lynar Staatsſchriften I, 216.

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/405>, abgerufen am 26.04.2024.