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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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§. 33. Völkerrecht im Zustand des Friedens.
oder indirect anreizen oder sonst eine Entvölkerung desselben
zu bewirken suchen; eben so wenig darf sie die Losreißung
einzelner Theile von dem fremden Staat verursachen, oder
dessen Enclaven in ihrem Gebiet sich eigenmächtig zueignen. 1
Dagegen ist kein Staat verhindert Auswanderer bei sich auf-
zunehmen oder im Allgemeinen den Auswandernden gewisse
Vortheile anzubieten, welche sie für ihn bestimmen können, 2
endlich auch selbständig gewordene Theile des fremden Ter-
ritoriums, nachdem ihre Trennung völkerrechtlich entschieden
ist (§. 23.), in sich aufzunehmen.
III. Keine Staatsgewalt kann einem fremden Territorium entzie-
hen oder vorenthalten, was demselben von Natur als Theil
angehört oder zufließt. Die natürlichen Verhältnisse müssen
unter den Nachbarstaaten so erhalten werden, wie sie sich
seit ihrer Gründung ergeben haben, und was die Natur al-
len oder vielen zugleich bestimmt hat, darf nicht von Einzelnen
als Eigenthum an sich behalten werden. So darf kein Fluß,
kein Bach dem Nachbarlande abgeschnitten, wohl aber im
eigenen Gebiet von jedem Staat zu seinem Nutzen gebraucht
werden, wenn ihm nur der natürliche Ausfluß an seiner frü-
heren Stelle gelassen wird. 3
IV. Selbst auf eigenem Gebiet darf kein Staat Anstalten treffen
oder zulassen, welche einen schädlichen Rückschlag auf ein
fremdes Territorium ausüben, dergestalt, daß dadurch die
natürlichen Verhältnisse zum Nachtheil des anderen Staates
verändert werden. 4

1 Die Politik hat freilich diesen unbestreitbaren Satz des Völkerrechts nicht
immer beobachtet. Sie hat zuweilen zu Empörung offen aufgefordert, oder
doch wenigstens Anreizungen und Propaganden in ihrem Interesse beför-
dert, ja es ist hin und wieder als stehende Politik erweislich gewesen. Doch
hat sie sich selten als Recht geltend zu machen gewagt, meist hat sie ins-
geheim gespielt und immer ist ihr entgegengetreten worden. Vgl. Günther,
Völkerr. II, S. 276 f.
2 Vgl. Moser, Vers. VI, 118. Günther, a. a. O. S. 298 ff.
3 Vattel, I, 22, 271. 273.
4 Die privatrechtliche Regel: In suo quisque facere non prohibetur dum
alteri non nocet
ist auch im Völkerrecht Wahrheit, muß aber im obi-
gen Sinn verstanden werden, wie sie im Civilrecht Anwendung leidet.
Auf keinen Fall kommt ein bloßes lucrum cessans in Betracht. Denn
multum interest utrum damnum quis faciat, an lucro quod adhuc fa-
§. 33. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.
oder indirect anreizen oder ſonſt eine Entvölkerung deſſelben
zu bewirken ſuchen; eben ſo wenig darf ſie die Losreißung
einzelner Theile von dem fremden Staat verurſachen, oder
deſſen Enclaven in ihrem Gebiet ſich eigenmächtig zueignen. 1
Dagegen iſt kein Staat verhindert Auswanderer bei ſich auf-
zunehmen oder im Allgemeinen den Auswandernden gewiſſe
Vortheile anzubieten, welche ſie für ihn beſtimmen können, 2
endlich auch ſelbſtändig gewordene Theile des fremden Ter-
ritoriums, nachdem ihre Trennung völkerrechtlich entſchieden
iſt (§. 23.), in ſich aufzunehmen.
III. Keine Staatsgewalt kann einem fremden Territorium entzie-
hen oder vorenthalten, was demſelben von Natur als Theil
angehört oder zufließt. Die natürlichen Verhältniſſe müſſen
unter den Nachbarſtaaten ſo erhalten werden, wie ſie ſich
ſeit ihrer Gründung ergeben haben, und was die Natur al-
len oder vielen zugleich beſtimmt hat, darf nicht von Einzelnen
als Eigenthum an ſich behalten werden. So darf kein Fluß,
kein Bach dem Nachbarlande abgeſchnitten, wohl aber im
eigenen Gebiet von jedem Staat zu ſeinem Nutzen gebraucht
werden, wenn ihm nur der natürliche Ausfluß an ſeiner frü-
heren Stelle gelaſſen wird. 3
IV. Selbſt auf eigenem Gebiet darf kein Staat Anſtalten treffen
oder zulaſſen, welche einen ſchädlichen Rückſchlag auf ein
fremdes Territorium ausüben, dergeſtalt, daß dadurch die
natürlichen Verhältniſſe zum Nachtheil des anderen Staates
verändert werden. 4

1 Die Politik hat freilich dieſen unbeſtreitbaren Satz des Völkerrechts nicht
immer beobachtet. Sie hat zuweilen zu Empörung offen aufgefordert, oder
doch wenigſtens Anreizungen und Propaganden in ihrem Intereſſe beför-
dert, ja es iſt hin und wieder als ſtehende Politik erweislich geweſen. Doch
hat ſie ſich ſelten als Recht geltend zu machen gewagt, meiſt hat ſie ins-
geheim geſpielt und immer iſt ihr entgegengetreten worden. Vgl. Günther,
Völkerr. II, S. 276 f.
2 Vgl. Moſer, Verſ. VI, 118. Günther, a. a. O. S. 298 ff.
3 Vattel, I, 22, 271. 273.
4 Die privatrechtliche Regel: In suo quisque facere non prohibetur dum
alteri non nocet
iſt auch im Völkerrecht Wahrheit, muß aber im obi-
gen Sinn verſtanden werden, wie ſie im Civilrecht Anwendung leidet.
Auf keinen Fall kommt ein bloßes lucrum cessans in Betracht. Denn
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[59/0083] §. 33. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens. oder indirect anreizen oder ſonſt eine Entvölkerung deſſelben zu bewirken ſuchen; eben ſo wenig darf ſie die Losreißung einzelner Theile von dem fremden Staat verurſachen, oder deſſen Enclaven in ihrem Gebiet ſich eigenmächtig zueignen. 1 Dagegen iſt kein Staat verhindert Auswanderer bei ſich auf- zunehmen oder im Allgemeinen den Auswandernden gewiſſe Vortheile anzubieten, welche ſie für ihn beſtimmen können, 2 endlich auch ſelbſtändig gewordene Theile des fremden Ter- ritoriums, nachdem ihre Trennung völkerrechtlich entſchieden iſt (§. 23.), in ſich aufzunehmen. III. Keine Staatsgewalt kann einem fremden Territorium entzie- hen oder vorenthalten, was demſelben von Natur als Theil angehört oder zufließt. Die natürlichen Verhältniſſe müſſen unter den Nachbarſtaaten ſo erhalten werden, wie ſie ſich ſeit ihrer Gründung ergeben haben, und was die Natur al- len oder vielen zugleich beſtimmt hat, darf nicht von Einzelnen als Eigenthum an ſich behalten werden. So darf kein Fluß, kein Bach dem Nachbarlande abgeſchnitten, wohl aber im eigenen Gebiet von jedem Staat zu ſeinem Nutzen gebraucht werden, wenn ihm nur der natürliche Ausfluß an ſeiner frü- heren Stelle gelaſſen wird. 3 IV. Selbſt auf eigenem Gebiet darf kein Staat Anſtalten treffen oder zulaſſen, welche einen ſchädlichen Rückſchlag auf ein fremdes Territorium ausüben, dergeſtalt, daß dadurch die natürlichen Verhältniſſe zum Nachtheil des anderen Staates verändert werden. 4 1 Die Politik hat freilich dieſen unbeſtreitbaren Satz des Völkerrechts nicht immer beobachtet. Sie hat zuweilen zu Empörung offen aufgefordert, oder doch wenigſtens Anreizungen und Propaganden in ihrem Intereſſe beför- dert, ja es iſt hin und wieder als ſtehende Politik erweislich geweſen. Doch hat ſie ſich ſelten als Recht geltend zu machen gewagt, meiſt hat ſie ins- geheim geſpielt und immer iſt ihr entgegengetreten worden. Vgl. Günther, Völkerr. II, S. 276 f. 2 Vgl. Moſer, Verſ. VI, 118. Günther, a. a. O. S. 298 ff. 3 Vattel, I, 22, 271. 273. 4 Die privatrechtliche Regel: In suo quisque facere non prohibetur dum alteri non nocet iſt auch im Völkerrecht Wahrheit, muß aber im obi- gen Sinn verſtanden werden, wie ſie im Civilrecht Anwendung leidet. Auf keinen Fall kommt ein bloßes lucrum cessans in Betracht. Denn multum interest utrum damnum quis faciat, an lucro quod adhuc fa-

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/83>, abgerufen am 26.04.2024.