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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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ohne es in einerley Zustande vesthalten zu können, und
überdies der Abwechselungen in einander überfliessender
Gemüthslagen, welche den Stoff unserer eigenen Lebens-
geschichte ausmachen: so zeigt sich Alles als kommend
und gehend, als schwankend und schwebend; mit einem
Worte, als etwas, das stärker und schwächer wird.

In jedem der eben gebrauchten Ausdrücke liegt ein
Grössenbegriff. Also ist in den Thatsachen des Be-
wusstseyns entweder keine genaue Regelmässigkeit, oder
sie ist durchweg von mathematischer Art; und man
muss versuchen, sie mathematisch auseinanderzusetzen.

Warum ist dies nicht längst unternommen worden?
Darauf könnten die älteren Zeiten, sich entschuldigend,
antworten: die Mathematik sey, vor Erfindung der Rech-
nung des Unendlichen, noch zu unvollkommen gewesen.
Allein folgende Bemerkungen sind allgemeiner.

§. 8.

Erstlich: die psychologischen Grössen sind nicht der-
gestalt gegeben, dass sie sich messen liessen; sie gestat-
ten nur eine unvollkommne Schätzung. Dies schreckt
ab von der Rechnung; jedoch mit Unrecht. Denn man
kann die Veränderlichkeit gewisser Grössen, und sie selbst,
in so fern sie veränderlich sind, berechnen, ohne sie voll-
ständig zu bestimmen; hierauf beruht die ganze Analysis
des Unendlichen. Man kann ferner Gesetze der Grössen-
veränderung hypothetisch annehmen, und mit den berech-
neten Folgen aus den Hypothesen die Erfahrung verglei-
chen. Sind die einzelnen Erfahrungen wenig genau, so
ist dagegen ihre Menge in der Psychologie unermesslich
gross, und es kommt nur darauf an, sie geschickt zu be-
nutzen. Uebrigens werden wir keiner Hypothese bedür-
fen, sondern auf einem vesten Wege der Untersuchung
diejenigen Voraussetzungen finden, deren Kreis zum Be-
hufe der Psychologie mathematisch durchlaufen werden
muss.

Die Schwierigkeit des Messens kommt daher fürs
Erste nicht in Betracht; aber wichtiger ist das Folgende.

ohne es in einerley Zustande vesthalten zu können, und
überdies der Abwechselungen in einander überflieſsender
Gemüthslagen, welche den Stoff unserer eigenen Lebens-
geschichte ausmachen: so zeigt sich Alles als kommend
und gehend, als schwankend und schwebend; mit einem
Worte, als etwas, das stärker und schwächer wird.

In jedem der eben gebrauchten Ausdrücke liegt ein
Gröſsenbegriff. Also ist in den Thatsachen des Be-
wuſstseyns entweder keine genaue Regelmäſsigkeit, oder
sie ist durchweg von mathematischer Art; und man
muſs versuchen, sie mathematisch auseinanderzusetzen.

Warum ist dies nicht längst unternommen worden?
Darauf könnten die älteren Zeiten, sich entschuldigend,
antworten: die Mathematik sey, vor Erfindung der Rech-
nung des Unendlichen, noch zu unvollkommen gewesen.
Allein folgende Bemerkungen sind allgemeiner.

§. 8.

Erstlich: die psychologischen Gröſsen sind nicht der-
gestalt gegeben, daſs sie sich messen lieſsen; sie gestat-
ten nur eine unvollkommne Schätzung. Dies schreckt
ab von der Rechnung; jedoch mit Unrecht. Denn man
kann die Veränderlichkeit gewisser Gröſsen, und sie selbst,
in so fern sie veränderlich sind, berechnen, ohne sie voll-
ständig zu bestimmen; hierauf beruht die ganze Analysis
des Unendlichen. Man kann ferner Gesetze der Gröſsen-
veränderung hypothetisch annehmen, und mit den berech-
neten Folgen aus den Hypothesen die Erfahrung verglei-
chen. Sind die einzelnen Erfahrungen wenig genau, so
ist dagegen ihre Menge in der Psychologie unermeſslich
groſs, und es kommt nur darauf an, sie geschickt zu be-
nutzen. Uebrigens werden wir keiner Hypothese bedür-
fen, sondern auf einem vesten Wege der Untersuchung
diejenigen Voraussetzungen finden, deren Kreis zum Be-
hufe der Psychologie mathematisch durchlaufen werden
muſs.

Die Schwierigkeit des Messens kommt daher fürs
Erste nicht in Betracht; aber wichtiger ist das Folgende.

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[18/0038] ohne es in einerley Zustande vesthalten zu können, und überdies der Abwechselungen in einander überflieſsender Gemüthslagen, welche den Stoff unserer eigenen Lebens- geschichte ausmachen: so zeigt sich Alles als kommend und gehend, als schwankend und schwebend; mit einem Worte, als etwas, das stärker und schwächer wird. In jedem der eben gebrauchten Ausdrücke liegt ein Gröſsenbegriff. Also ist in den Thatsachen des Be- wuſstseyns entweder keine genaue Regelmäſsigkeit, oder sie ist durchweg von mathematischer Art; und man muſs versuchen, sie mathematisch auseinanderzusetzen. Warum ist dies nicht längst unternommen worden? Darauf könnten die älteren Zeiten, sich entschuldigend, antworten: die Mathematik sey, vor Erfindung der Rech- nung des Unendlichen, noch zu unvollkommen gewesen. Allein folgende Bemerkungen sind allgemeiner. §. 8. Erstlich: die psychologischen Gröſsen sind nicht der- gestalt gegeben, daſs sie sich messen lieſsen; sie gestat- ten nur eine unvollkommne Schätzung. Dies schreckt ab von der Rechnung; jedoch mit Unrecht. Denn man kann die Veränderlichkeit gewisser Gröſsen, und sie selbst, in so fern sie veränderlich sind, berechnen, ohne sie voll- ständig zu bestimmen; hierauf beruht die ganze Analysis des Unendlichen. Man kann ferner Gesetze der Gröſsen- veränderung hypothetisch annehmen, und mit den berech- neten Folgen aus den Hypothesen die Erfahrung verglei- chen. Sind die einzelnen Erfahrungen wenig genau, so ist dagegen ihre Menge in der Psychologie unermeſslich groſs, und es kommt nur darauf an, sie geschickt zu be- nutzen. Uebrigens werden wir keiner Hypothese bedür- fen, sondern auf einem vesten Wege der Untersuchung diejenigen Voraussetzungen finden, deren Kreis zum Be- hufe der Psychologie mathematisch durchlaufen werden muſs. Die Schwierigkeit des Messens kommt daher fürs Erste nicht in Betracht; aber wichtiger ist das Folgende.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/38>, abgerufen am 19.03.2024.