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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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weitläuftigen Untersuchung, auf deren Bahn uns Fichte
geholfen hat; ein nicht genug zu schätzendes Verdienst,
zu dessen Anerkennung ich durch das gegenwärtige Buch
etwas beyzutragen wünsche.

§. 21.

Unter den Psychologen, welche jünger sind als Kant,
befindet sich Einer, der leider schon zu den Verstor-
benen gehört. Es ist der vortreftliche, auch von mir
sehr hochgeschätzte Carus. Ich wünschte sehr, nicht
bekennen zu müssen, dass dessen Psychologie mich die
darin gesuchten Aufklärungen hat vermissen lassen. Was
ich gefunden, brauche ich hier nicht zu beurtheilen, da
meine Ansicht sehr leicht aus demjenigen kann geschlos-
sen werden, was bereits über die Seelenvermögen, und
die auf sie gedeuteten Abstracta, ist gesagt worden.

Von den noch Lebenden werde ich mir nur erlau-
ben, die Herren Professoren Hoffbauer, Fries und
Weiss zu nennen.

Der Grundriss der Erfahrungsseelenlehre von Hoff-
bauer
kann meiner Meinung nach nicht bloss als Bey-
spiel, sondern beynahe als Muster einer klaren und ver-
ständig geordneten Uebersicht bisheriger Psychologie be-
trachtet werden. Das Streben, sich vor Erschleichungen
zu hüten, ist in sorgfältiger Wahl der Ausdrücke über-
all sichtbar. Als Methode wird sogleich im §. 10. die
Induction angegeben. Auffallend aber ist es, dass nun
gleichwohl das ganze Buch den gewöhnlichen Weg vom
Allgemeinen zum Besondern hinabsteigt, während die
Induction den gerade entgegengesetzten Gang erfordert.
Sollen Leser und Zuhörer von den letzten Resultaten zu
der Erkenntnissquelle geführt werden? Sollen sie mit dem
Glauben anfangen, und mit dem Schauen endigen? So
giebt es auch Vorträge der Chemie, worin mit dem Sauer-
stoff angefangen, mit den bekannten und sichtbaren Kör-
pern geendigt wird; anstatt dem Zuhörer zuerst die Ex-
perimente bekannt zu machen, aus welchen auf den Sauer-
stoff und seines Gleichen zu schliessen ist. -- Aber ich

I. E

weitläuftigen Untersuchung, auf deren Bahn uns Fichte
geholfen hat; ein nicht genug zu schätzendes Verdienst,
zu dessen Anerkennung ich durch das gegenwärtige Buch
etwas beyzutragen wünsche.

§. 21.

Unter den Psychologen, welche jünger sind als Kant,
befindet sich Einer, der leider schon zu den Verstor-
benen gehört. Es ist der vortreftliche, auch von mir
sehr hochgeschätzte Carus. Ich wünschte sehr, nicht
bekennen zu müssen, daſs dessen Psychologie mich die
darin gesuchten Aufklärungen hat vermissen lassen. Was
ich gefunden, brauche ich hier nicht zu beurtheilen, da
meine Ansicht sehr leicht aus demjenigen kann geschlos-
sen werden, was bereits über die Seelenvermögen, und
die auf sie gedeuteten Abstracta, ist gesagt worden.

Von den noch Lebenden werde ich mir nur erlau-
ben, die Herren Professoren Hoffbauer, Fries und
Weiſs zu nennen.

Der Grundriſs der Erfahrungsseelenlehre von Hoff-
bauer
kann meiner Meinung nach nicht bloſs als Bey-
spiel, sondern beynahe als Muster einer klaren und ver-
ständig geordneten Uebersicht bisheriger Psychologie be-
trachtet werden. Das Streben, sich vor Erschleichungen
zu hüten, ist in sorgfältiger Wahl der Ausdrücke über-
all sichtbar. Als Methode wird sogleich im §. 10. die
Induction angegeben. Auffallend aber ist es, daſs nun
gleichwohl das ganze Buch den gewöhnlichen Weg vom
Allgemeinen zum Besondern hinabsteigt, während die
Induction den gerade entgegengesetzten Gang erfordert.
Sollen Leser und Zuhörer von den letzten Resultaten zu
der Erkenntniſsquelle geführt werden? Sollen sie mit dem
Glauben anfangen, und mit dem Schauen endigen? So
giebt es auch Vorträge der Chemie, worin mit dem Sauer-
stoff angefangen, mit den bekannten und sichtbaren Kör-
pern geendigt wird; anstatt dem Zuhörer zuerst die Ex-
perimente bekannt zu machen, aus welchen auf den Sauer-
stoff und seines Gleichen zu schlieſsen ist. — Aber ich

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[65/0085] weitläuftigen Untersuchung, auf deren Bahn uns Fichte geholfen hat; ein nicht genug zu schätzendes Verdienst, zu dessen Anerkennung ich durch das gegenwärtige Buch etwas beyzutragen wünsche. §. 21. Unter den Psychologen, welche jünger sind als Kant, befindet sich Einer, der leider schon zu den Verstor- benen gehört. Es ist der vortreftliche, auch von mir sehr hochgeschätzte Carus. Ich wünschte sehr, nicht bekennen zu müssen, daſs dessen Psychologie mich die darin gesuchten Aufklärungen hat vermissen lassen. Was ich gefunden, brauche ich hier nicht zu beurtheilen, da meine Ansicht sehr leicht aus demjenigen kann geschlos- sen werden, was bereits über die Seelenvermögen, und die auf sie gedeuteten Abstracta, ist gesagt worden. Von den noch Lebenden werde ich mir nur erlau- ben, die Herren Professoren Hoffbauer, Fries und Weiſs zu nennen. Der Grundriſs der Erfahrungsseelenlehre von Hoff- bauer kann meiner Meinung nach nicht bloſs als Bey- spiel, sondern beynahe als Muster einer klaren und ver- ständig geordneten Uebersicht bisheriger Psychologie be- trachtet werden. Das Streben, sich vor Erschleichungen zu hüten, ist in sorgfältiger Wahl der Ausdrücke über- all sichtbar. Als Methode wird sogleich im §. 10. die Induction angegeben. Auffallend aber ist es, daſs nun gleichwohl das ganze Buch den gewöhnlichen Weg vom Allgemeinen zum Besondern hinabsteigt, während die Induction den gerade entgegengesetzten Gang erfordert. Sollen Leser und Zuhörer von den letzten Resultaten zu der Erkenntniſsquelle geführt werden? Sollen sie mit dem Glauben anfangen, und mit dem Schauen endigen? So giebt es auch Vorträge der Chemie, worin mit dem Sauer- stoff angefangen, mit den bekannten und sichtbaren Kör- pern geendigt wird; anstatt dem Zuhörer zuerst die Ex- perimente bekannt zu machen, aus welchen auf den Sauer- stoff und seines Gleichen zu schlieſsen ist. — Aber ich I. E

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/85>, abgerufen am 26.04.2024.