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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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len abgeleitet werden müssen, und ganz und gar nicht
als besondre Seelenkräfte angesehen werden dürfen, folgt
schon aus der allgemein-metaphysischen, in der letztern
Hälfte des §. 33. angedeuteten, Untersuchung, aus wel-
cher hervorgeht, dass überhaupt Ein Seyendes keine ur-
sprüngliche Mehrheit von Bestimmungen, -- ein Vorstel-
lendes keine ursprüngliche Mehrheit von Gemüthskräften,
-- enthalten könne. Wie aber das Vorstellen in ein
Wollen übergehe, kann jetzt nicht mehr zweifelhaft seyn,
da wir gesehen haben, dass Vorstellungen, vermöge ge-
genseitiger Hemmung, sich in ein Streben vorzustellen
verwandeln. Modificationen dieses Strebens müssen alle
diejenigen Phänomene seyn, welche unter dem Namen
des Willens, im weitesten Sinne des Worts, begriffen
werden. Denn alles Wollen trachtet nur dahin, sein
Vorgestelltes entweder vollkommen ins Bewusstseyn zu
bringen, oder vollkommen hinauszuschaffen; (das letztre
ist der Fall beym Verabscheuen.) Mehr aber als eine
Vorstellung ihres Gegenstandes kann keine Begierde
erreichen; denn keine Dinge, sondern nur Vorstellungen,
haben Platz in einem Vorstellenden; auch wird jede Be-
gierde befriedigt, nicht durch die Realität, sondern durch
neues Gegeben-Werden der Vorstellung ihres Gegen-
standes, welches aber freylich in der Regel nur durch
sinnliche Gegenwart desselben vollständig erreicht werden
kann. Hier bestätigt sich nun der oben angeführte Ge-
danke von Leibniz: die Seele begehre, so fern sie von
einer Vorstellung zur andern strebe. (Man vergleiche
§. 18.) Genauer aber besteht jedes Wollen in dem Stre-
ben gewisser Vorstellungen; und zwar das Begehren in
dem Streben eben derselben Vorstellungen, durch
welche früherhin der begehrte Gegenstand ist aufgefasst
worden (denn diese nämlichen Vorstellungen dauern fort
im gehemmten Zustande, und wirken in der Seele un-
aufhörlich gleich elastischen Stahlfedern), hingegen das
Verabscheuen besteht im Streben anderer Vorstellungen,
welche der des Verabscheueten entgegengesetzt sind. Dun-

len abgeleitet werden müssen, und ganz und gar nicht
als besondre Seelenkräfte angesehen werden dürfen, folgt
schon aus der allgemein-metaphysischen, in der letztern
Hälfte des §. 33. angedeuteten, Untersuchung, aus wel-
cher hervorgeht, daſs überhaupt Ein Seyendes keine ur-
sprüngliche Mehrheit von Bestimmungen, — ein Vorstel-
lendes keine ursprüngliche Mehrheit von Gemüthskräften,
— enthalten könne. Wie aber das Vorstellen in ein
Wollen übergehe, kann jetzt nicht mehr zweifelhaft seyn,
da wir gesehen haben, daſs Vorstellungen, vermöge ge-
genseitiger Hemmung, sich in ein Streben vorzustellen
verwandeln. Modificationen dieses Strebens müssen alle
diejenigen Phänomene seyn, welche unter dem Namen
des Willens, im weitesten Sinne des Worts, begriffen
werden. Denn alles Wollen trachtet nur dahin, sein
Vorgestelltes entweder vollkommen ins Bewuſstseyn zu
bringen, oder vollkommen hinauszuschaffen; (das letztre
ist der Fall beym Verabscheuen.) Mehr aber als eine
Vorstellung ihres Gegenstandes kann keine Begierde
erreichen; denn keine Dinge, sondern nur Vorstellungen,
haben Platz in einem Vorstellenden; auch wird jede Be-
gierde befriedigt, nicht durch die Realität, sondern durch
neues Gegeben-Werden der Vorstellung ihres Gegen-
standes, welches aber freylich in der Regel nur durch
sinnliche Gegenwart desselben vollständig erreicht werden
kann. Hier bestätigt sich nun der oben angeführte Ge-
danke von Leibniz: die Seele begehre, so fern sie von
einer Vorstellung zur andern strebe. (Man vergleiche
§. 18.) Genauer aber besteht jedes Wollen in dem Stre-
ben gewisser Vorstellungen; und zwar das Begehren in
dem Streben eben derselben Vorstellungen, durch
welche früherhin der begehrte Gegenstand ist aufgefaſst
worden (denn diese nämlichen Vorstellungen dauern fort
im gehemmten Zustande, und wirken in der Seele un-
aufhörlich gleich elastischen Stahlfedern), hingegen das
Verabscheuen besteht im Streben anderer Vorstellungen,
welche der des Verabscheueten entgegengesetzt sind. Dun-

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[149/0169] len abgeleitet werden müssen, und ganz und gar nicht als besondre Seelenkräfte angesehen werden dürfen, folgt schon aus der allgemein-metaphysischen, in der letztern Hälfte des §. 33. angedeuteten, Untersuchung, aus wel- cher hervorgeht, daſs überhaupt Ein Seyendes keine ur- sprüngliche Mehrheit von Bestimmungen, — ein Vorstel- lendes keine ursprüngliche Mehrheit von Gemüthskräften, — enthalten könne. Wie aber das Vorstellen in ein Wollen übergehe, kann jetzt nicht mehr zweifelhaft seyn, da wir gesehen haben, daſs Vorstellungen, vermöge ge- genseitiger Hemmung, sich in ein Streben vorzustellen verwandeln. Modificationen dieses Strebens müssen alle diejenigen Phänomene seyn, welche unter dem Namen des Willens, im weitesten Sinne des Worts, begriffen werden. Denn alles Wollen trachtet nur dahin, sein Vorgestelltes entweder vollkommen ins Bewuſstseyn zu bringen, oder vollkommen hinauszuschaffen; (das letztre ist der Fall beym Verabscheuen.) Mehr aber als eine Vorstellung ihres Gegenstandes kann keine Begierde erreichen; denn keine Dinge, sondern nur Vorstellungen, haben Platz in einem Vorstellenden; auch wird jede Be- gierde befriedigt, nicht durch die Realität, sondern durch neues Gegeben-Werden der Vorstellung ihres Gegen- standes, welches aber freylich in der Regel nur durch sinnliche Gegenwart desselben vollständig erreicht werden kann. Hier bestätigt sich nun der oben angeführte Ge- danke von Leibniz: die Seele begehre, so fern sie von einer Vorstellung zur andern strebe. (Man vergleiche §. 18.) Genauer aber besteht jedes Wollen in dem Stre- ben gewisser Vorstellungen; und zwar das Begehren in dem Streben eben derselben Vorstellungen, durch welche früherhin der begehrte Gegenstand ist aufgefaſst worden (denn diese nämlichen Vorstellungen dauern fort im gehemmten Zustande, und wirken in der Seele un- aufhörlich gleich elastischen Stahlfedern), hingegen das Verabscheuen besteht im Streben anderer Vorstellungen, welche der des Verabscheueten entgegengesetzt sind. Dun-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/169>, abgerufen am 27.04.2024.