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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Die Ueberlegung kommt vor

1) bey Prämissen eines Schlusses. Daher ist auch
die Vernunft ein logisches Vermögen.

2) Bey der Erweiterung der Begriffe zum Unendli-
chen und Unbedingten. Nach einer gegebenen Regel
des Fortschritts werden hier einige Fortschreitungen wirk-
lich gemacht, und dann die Möglichkeit der noch zu
machenden in einen Gedanken zusammengefasst.

3) Beym Wählen unter Zwecken; also bey der
Veststellung praktischer Maximen. Daher ist die Ver-
nunft ein moralisches Vermögen.

Die Erläuterungen hievon werden sich allmählig dar-
bieten. Soviel sicht man auf den ersten Blick, dass nach
diesen Erklärungen Verstand und Vernunft einander nicht
coordinirt werden können, weil sie sich nicht mit Ge-
nauigkeit ausschliessen. Allein darin eben liegt der Feh-
ler, den man begeht, dass man sie coordiniren will, um
daraus reale Seelenvermögen machen zu können. Gute
Namenerklärungen müssen dem Sprachgebrauche ange-
messen seyn; und der geht nicht darauf aus, dass die
Begriffe einander vollkommen ausschliessen sollen; er
bezeichnet oftmals nur verschiedene Gesichtspuncte für
einerley Erscheinungen, durch die Verschiedenheit der
Worte. Jetzt kehren wir zurück in den Zusammenhang
des Vortrags.

§. 118.

Die Gränze zwischen dem obern und untern Erkennt-
nissvermögen wird durch eine Verschiedenheit der Erklä-
rungen darüber, die sich bey Wolff und Kant, den
hauptsächlichsten Absonderern der Seelenvermögen, fin-
det, -- nicht wenig zweifelhaft gemacht. Wolff setzt
die Deutlichkeit der Erkenntniss zum Scheidepuncte; da-
her beginnt auch seine Lehre vom obern Erkenntnissver-
mögen mit der Aufmerksamkeit, welche die Theil-
vorstellungen einzeln hervorhebe. Kant (in der Anthro-
pologie, S. 25.,) ist hiemit sehr unzufrieden; er beschul-
digt Leibnitzen, als Platoniker angeborne reine Ver-

Die Ueberlegung kommt vor

1) bey Prämissen eines Schlusses. Daher ist auch
die Vernunft ein logisches Vermögen.

2) Bey der Erweiterung der Begriffe zum Unendli-
chen und Unbedingten. Nach einer gegebenen Regel
des Fortschritts werden hier einige Fortschreitungen wirk-
lich gemacht, und dann die Möglichkeit der noch zu
machenden in einen Gedanken zusammengefaſst.

3) Beym Wählen unter Zwecken; also bey der
Veststellung praktischer Maximen. Daher ist die Ver-
nunft ein moralisches Vermögen.

Die Erläuterungen hievon werden sich allmählig dar-
bieten. Soviel sicht man auf den ersten Blick, daſs nach
diesen Erklärungen Verstand und Vernunft einander nicht
coordinirt werden können, weil sie sich nicht mit Ge-
nauigkeit ausschlieſsen. Allein darin eben liegt der Feh-
ler, den man begeht, daſs man sie coordiniren will, um
daraus reale Seelenvermögen machen zu können. Gute
Namenerklärungen müssen dem Sprachgebrauche ange-
messen seyn; und der geht nicht darauf aus, daſs die
Begriffe einander vollkommen ausschlieſsen sollen; er
bezeichnet oftmals nur verschiedene Gesichtspuncte für
einerley Erscheinungen, durch die Verschiedenheit der
Worte. Jetzt kehren wir zurück in den Zusammenhang
des Vortrags.

§. 118.

Die Gränze zwischen dem obern und untern Erkennt-
niſsvermögen wird durch eine Verschiedenheit der Erklä-
rungen darüber, die sich bey Wolff und Kant, den
hauptsächlichsten Absonderern der Seelenvermögen, fin-
det, — nicht wenig zweifelhaft gemacht. Wolff setzt
die Deutlichkeit der Erkenntniſs zum Scheidepuncte; da-
her beginnt auch seine Lehre vom obern Erkenntniſsver-
mögen mit der Aufmerksamkeit, welche die Theil-
vorstellungen einzeln hervorhebe. Kant (in der Anthro-
pologie, S. 25.,) ist hiemit sehr unzufrieden; er beschul-
digt Leibnitzen, als Platoniker angeborne reine Ver-

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[166/0201] Die Ueberlegung kommt vor 1) bey Prämissen eines Schlusses. Daher ist auch die Vernunft ein logisches Vermögen. 2) Bey der Erweiterung der Begriffe zum Unendli- chen und Unbedingten. Nach einer gegebenen Regel des Fortschritts werden hier einige Fortschreitungen wirk- lich gemacht, und dann die Möglichkeit der noch zu machenden in einen Gedanken zusammengefaſst. 3) Beym Wählen unter Zwecken; also bey der Veststellung praktischer Maximen. Daher ist die Ver- nunft ein moralisches Vermögen. Die Erläuterungen hievon werden sich allmählig dar- bieten. Soviel sicht man auf den ersten Blick, daſs nach diesen Erklärungen Verstand und Vernunft einander nicht coordinirt werden können, weil sie sich nicht mit Ge- nauigkeit ausschlieſsen. Allein darin eben liegt der Feh- ler, den man begeht, daſs man sie coordiniren will, um daraus reale Seelenvermögen machen zu können. Gute Namenerklärungen müssen dem Sprachgebrauche ange- messen seyn; und der geht nicht darauf aus, daſs die Begriffe einander vollkommen ausschlieſsen sollen; er bezeichnet oftmals nur verschiedene Gesichtspuncte für einerley Erscheinungen, durch die Verschiedenheit der Worte. Jetzt kehren wir zurück in den Zusammenhang des Vortrags. §. 118. Die Gränze zwischen dem obern und untern Erkennt- niſsvermögen wird durch eine Verschiedenheit der Erklä- rungen darüber, die sich bey Wolff und Kant, den hauptsächlichsten Absonderern der Seelenvermögen, fin- det, — nicht wenig zweifelhaft gemacht. Wolff setzt die Deutlichkeit der Erkenntniſs zum Scheidepuncte; da- her beginnt auch seine Lehre vom obern Erkenntniſsver- mögen mit der Aufmerksamkeit, welche die Theil- vorstellungen einzeln hervorhebe. Kant (in der Anthro- pologie, S. 25.,) ist hiemit sehr unzufrieden; er beschul- digt Leibnitzen, als Platoniker angeborne reine Ver-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/201>, abgerufen am 19.03.2024.