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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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nen müsste. Sondern gerade wie die Geometer es mit
ihren Linien machen, so kann man auch hier beliebig
eine oder die andre Grösse zum Maasse nehmen, gegen
welche
dann die andern irrational seyn mögen. Warum
steht dieses frey? Darum, weil die Vorstellungen an sich
gar nicht Quanta sind, sondern diese ganze Betrachtungs-
art ihnen nur in demjenigen psychologischen Nachdenken
zukommt, welches Eine Vorstellung mit der andern ver-
gleicht, oder auch den Grad der Verdunkelung mit dem
des wirklichen Vorstellens zusammenhält. Ungefähr so,
wie in der allgemeinen Metaphysik die Wesen bloss für
das zusammenfassende Denken sich im intelligibeln Raume
befinden. Oder ganz allgemein so, wie alle Grössenbe-
griffe lediglich als Hülfsmittel des Denkens anzusehen
sind, die sich gänzlich nach der Natur der Gegenstände,
bey denen sie gebraucht werden, fügen und schmiegen
müssen; ohne jemals reale Prädicate derselben abzuge-
ben. Ein Punct, den man vor allen Dingen völlig muss
begriffen haben, ehe man von den Untersuchungen über
die Materie, vollends über lebende Leiber, irgend etwas
gründlich durchdenken kann.

§. 145.

Wir haben in den vorhergehenden Paragraphen
Rechenschaft gegeben über den psychologischen Ursprung
der Begriffe von Substanz, Kraft, Materie, Bewegung.
Und in dem vorigen Capitel wurde die Entstehung des
Begriffs vom Ich untersucht. Aber diese Nachforschun-
gen über die Genesis derjenigen Vorstellungsarten, an
welchen die allgemeine Metaphysik sich übt, haben sie
etwan die Schwierigkeiten vermindert, die Widersprüche
weggeschafft, welche der letztgenannten Wissenschaft so
grosse Aufgaben bereiten? Gewiss nicht! Im Gegentheil,
es ist deutlich zu erkennen, dass, und warum
die metaphysischen Probleme sich gegen jedes,
bloss logische Deutlichkeit suchende Denken,
hartnäckig und unüberwindlich zeigen müssen
.
Der psychologische Mechanismus bringt es mit sich, dass

nen müſste. Sondern gerade wie die Geometer es mit
ihren Linien machen, so kann man auch hier beliebig
eine oder die andre Gröſse zum Maaſse nehmen, gegen
welche
dann die andern irrational seyn mögen. Warum
steht dieses frey? Darum, weil die Vorstellungen an sich
gar nicht Quanta sind, sondern diese ganze Betrachtungs-
art ihnen nur in demjenigen psychologischen Nachdenken
zukommt, welches Eine Vorstellung mit der andern ver-
gleicht, oder auch den Grad der Verdunkelung mit dem
des wirklichen Vorstellens zusammenhält. Ungefähr so,
wie in der allgemeinen Metaphysik die Wesen bloſs für
das zusammenfassende Denken sich im intelligibeln Raume
befinden. Oder ganz allgemein so, wie alle Gröſsenbe-
griffe lediglich als Hülfsmittel des Denkens anzusehen
sind, die sich gänzlich nach der Natur der Gegenstände,
bey denen sie gebraucht werden, fügen und schmiegen
müssen; ohne jemals reale Prädicate derselben abzuge-
ben. Ein Punct, den man vor allen Dingen völlig muſs
begriffen haben, ehe man von den Untersuchungen über
die Materie, vollends über lebende Leiber, irgend etwas
gründlich durchdenken kann.

§. 145.

Wir haben in den vorhergehenden Paragraphen
Rechenschaft gegeben über den psychologischen Ursprung
der Begriffe von Substanz, Kraft, Materie, Bewegung.
Und in dem vorigen Capitel wurde die Entstehung des
Begriffs vom Ich untersucht. Aber diese Nachforschun-
gen über die Genesis derjenigen Vorstellungsarten, an
welchen die allgemeine Metaphysik sich übt, haben sie
etwan die Schwierigkeiten vermindert, die Widersprüche
weggeschafft, welche der letztgenannten Wissenschaft so
groſse Aufgaben bereiten? Gewiſs nicht! Im Gegentheil,
es ist deutlich zu erkennen, daſs, und warum
die metaphysischen Probleme sich gegen jedes,
bloſs logische Deutlichkeit suchende Denken,
hartnäckig und unüberwindlich zeigen müssen
.
Der psychologische Mechanismus bringt es mit sich, daſs

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[360/0395] nen müſste. Sondern gerade wie die Geometer es mit ihren Linien machen, so kann man auch hier beliebig eine oder die andre Gröſse zum Maaſse nehmen, gegen welche dann die andern irrational seyn mögen. Warum steht dieses frey? Darum, weil die Vorstellungen an sich gar nicht Quanta sind, sondern diese ganze Betrachtungs- art ihnen nur in demjenigen psychologischen Nachdenken zukommt, welches Eine Vorstellung mit der andern ver- gleicht, oder auch den Grad der Verdunkelung mit dem des wirklichen Vorstellens zusammenhält. Ungefähr so, wie in der allgemeinen Metaphysik die Wesen bloſs für das zusammenfassende Denken sich im intelligibeln Raume befinden. Oder ganz allgemein so, wie alle Gröſsenbe- griffe lediglich als Hülfsmittel des Denkens anzusehen sind, die sich gänzlich nach der Natur der Gegenstände, bey denen sie gebraucht werden, fügen und schmiegen müssen; ohne jemals reale Prädicate derselben abzuge- ben. Ein Punct, den man vor allen Dingen völlig muſs begriffen haben, ehe man von den Untersuchungen über die Materie, vollends über lebende Leiber, irgend etwas gründlich durchdenken kann. §. 145. Wir haben in den vorhergehenden Paragraphen Rechenschaft gegeben über den psychologischen Ursprung der Begriffe von Substanz, Kraft, Materie, Bewegung. Und in dem vorigen Capitel wurde die Entstehung des Begriffs vom Ich untersucht. Aber diese Nachforschun- gen über die Genesis derjenigen Vorstellungsarten, an welchen die allgemeine Metaphysik sich übt, haben sie etwan die Schwierigkeiten vermindert, die Widersprüche weggeschafft, welche der letztgenannten Wissenschaft so groſse Aufgaben bereiten? Gewiſs nicht! Im Gegentheil, es ist deutlich zu erkennen, daſs, und warum die metaphysischen Probleme sich gegen jedes, bloſs logische Deutlichkeit suchende Denken, hartnäckig und unüberwindlich zeigen müssen. Der psychologische Mechanismus bringt es mit sich, daſs

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/395>, abgerufen am 19.03.2024.