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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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keit und die Wandelbarkeit grösser. Schon für die Mo-
ralität giebt es nicht bloss eine einzige, gleichmässig in
sich zusammenhängende Vorstellungsmasse; und dies aus
dem sehr natürlichen Grunde, weil es nicht bloss eine,
sondern fünf praktische Grundideen giebt. Daher grosse
Verschiedenheiten unter Mehrern, und Ungleichheiten
im Individuo, in Hinsicht auf Recht, Billigkeit, Güte,
Kraft, Selbstbeherrschung. Aber auch andere ästhetische
Urtheile, und überdies die verschiedenen Lebensverhält-
nisse bilden ihre besondern Vorstellungsmassen. Der
Mensch, wie er arbeitet, und der nämliche, wie er spielt
und sich erhohlt, ist sich oftmals kaum ähnlich. Son-
derbare Liebhabereyen, Affecte, körperliche Aufregungen,
traumähnliche Zustände, haben oft jedes seine eigne
Vorstellungsmasse, die, wenn sie den Hauptplan des Le-
bens unzeitig durchkreuzt, als ein innerer Feind er-
scheint; wohl gar als ein böser Geist. Jede dieser Vor-
stellungsmassen nun hat ihren eignen moralischen Werth,
sey er positiv oder negativ. Die Summe, oder vielmehr
das psychologische Resultat dieser Werthe ist der Total-
Werth des Menschen; aber niemals erscheint diese
Summe auf einmal im Bewusstseyn, sondern abwechselnd
steigen und sinken die Vorstellungsmassen; und bilden
eine bunte, innere Erscheinung, derentwegen der Mensch
sich bald für besser, bald für schlechter hält, als er ist.
So scheidet sich die Erscheinung von jener Mittelwelt,
die wir nicht mehr zu beschreiben brauchen; denn die
ganze speculative Psychologie ist ihre Beschreibung. Den
Uebergang zum nächstfolgenden Abschnitte aber macht
die Bemerkung, dass die Mittelwelt, das heisst, die blei-
benden innern Zustände der einfachen Wesen, überall
unerkannt der lebenden Natur zum Grunde liegt, wie sich
nun bald deutlicher zeigen wird.

Anmerkung.

Man erwartet vielleicht, dass ich hier am Ende noch
etwas über die Freyheit sage. Das soll geschehen; allein

keit und die Wandelbarkeit gröſser. Schon für die Mo-
ralität giebt es nicht bloſs eine einzige, gleichmäſsig in
sich zusammenhängende Vorstellungsmasse; und dies aus
dem sehr natürlichen Grunde, weil es nicht bloſs eine,
sondern fünf praktische Grundideen giebt. Daher groſse
Verschiedenheiten unter Mehrern, und Ungleichheiten
im Individuo, in Hinsicht auf Recht, Billigkeit, Güte,
Kraft, Selbstbeherrschung. Aber auch andere ästhetische
Urtheile, und überdies die verschiedenen Lebensverhält-
nisse bilden ihre besondern Vorstellungsmassen. Der
Mensch, wie er arbeitet, und der nämliche, wie er spielt
und sich erhohlt, ist sich oftmals kaum ähnlich. Son-
derbare Liebhabereyen, Affecte, körperliche Aufregungen,
traumähnliche Zustände, haben oft jedes seine eigne
Vorstellungsmasse, die, wenn sie den Hauptplan des Le-
bens unzeitig durchkreuzt, als ein innerer Feind er-
scheint; wohl gar als ein böser Geist. Jede dieser Vor-
stellungsmassen nun hat ihren eignen moralischen Werth,
sey er positiv oder negativ. Die Summe, oder vielmehr
das psychologische Resultat dieser Werthe ist der Total-
Werth des Menschen; aber niemals erscheint diese
Summe auf einmal im Bewuſstseyn, sondern abwechselnd
steigen und sinken die Vorstellungsmassen; und bilden
eine bunte, innere Erscheinung, derentwegen der Mensch
sich bald für besser, bald für schlechter hält, als er ist.
So scheidet sich die Erscheinung von jener Mittelwelt,
die wir nicht mehr zu beschreiben brauchen; denn die
ganze speculative Psychologie ist ihre Beschreibung. Den
Uebergang zum nächstfolgenden Abschnitte aber macht
die Bemerkung, daſs die Mittelwelt, das heiſst, die blei-
benden innern Zustände der einfachen Wesen, überall
unerkannt der lebenden Natur zum Grunde liegt, wie sich
nun bald deutlicher zeigen wird.

Anmerkung.

Man erwartet vielleicht, daſs ich hier am Ende noch
etwas über die Freyheit sage. Das soll geschehen; allein

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[447/0482] keit und die Wandelbarkeit gröſser. Schon für die Mo- ralität giebt es nicht bloſs eine einzige, gleichmäſsig in sich zusammenhängende Vorstellungsmasse; und dies aus dem sehr natürlichen Grunde, weil es nicht bloſs eine, sondern fünf praktische Grundideen giebt. Daher groſse Verschiedenheiten unter Mehrern, und Ungleichheiten im Individuo, in Hinsicht auf Recht, Billigkeit, Güte, Kraft, Selbstbeherrschung. Aber auch andere ästhetische Urtheile, und überdies die verschiedenen Lebensverhält- nisse bilden ihre besondern Vorstellungsmassen. Der Mensch, wie er arbeitet, und der nämliche, wie er spielt und sich erhohlt, ist sich oftmals kaum ähnlich. Son- derbare Liebhabereyen, Affecte, körperliche Aufregungen, traumähnliche Zustände, haben oft jedes seine eigne Vorstellungsmasse, die, wenn sie den Hauptplan des Le- bens unzeitig durchkreuzt, als ein innerer Feind er- scheint; wohl gar als ein böser Geist. Jede dieser Vor- stellungsmassen nun hat ihren eignen moralischen Werth, sey er positiv oder negativ. Die Summe, oder vielmehr das psychologische Resultat dieser Werthe ist der Total- Werth des Menschen; aber niemals erscheint diese Summe auf einmal im Bewuſstseyn, sondern abwechselnd steigen und sinken die Vorstellungsmassen; und bilden eine bunte, innere Erscheinung, derentwegen der Mensch sich bald für besser, bald für schlechter hält, als er ist. So scheidet sich die Erscheinung von jener Mittelwelt, die wir nicht mehr zu beschreiben brauchen; denn die ganze speculative Psychologie ist ihre Beschreibung. Den Uebergang zum nächstfolgenden Abschnitte aber macht die Bemerkung, daſs die Mittelwelt, das heiſst, die blei- benden innern Zustände der einfachen Wesen, überall unerkannt der lebenden Natur zum Grunde liegt, wie sich nun bald deutlicher zeigen wird. Anmerkung. Man erwartet vielleicht, daſs ich hier am Ende noch etwas über die Freyheit sage. Das soll geschehen; allein

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/482>, abgerufen am 19.03.2024.