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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Bevor wir dies alles mit mehr Bestimmtheit erörtern,
soll hier noch eine allgemeine Erinnerung statt finden,
welche nicht vergessen werden darf, wenn man sich in
psychologischen Untersuchungen wissenschaftlich orientiren
will. Diese nämlich, dass eine nicht geringe Vertraut-
heit mit den Ansichten des Idealismus nöthig ist, um
die psychologischen Probleme richtig aufzufassen.

Es giebt überhaupt keinen gründlichen Realismus,
als nur allein den, welcher aus der Widerlegung des
Idealismus hervorgeht. Wer unmittelbar auf das Zeug-
niss der Sinne sich beruft, wenn von der Realität der
Aussendinge die Rede ist, der ist unwissend in den er-
sten Elementen der Philosophie.

Die Welt, welche uns erscheint, ist unser Wahr-
genommenes; also in uns. Die reale Welt, aus welcher
wir die Erscheinung erklären, ist unser Gedachtes; also
in uns. Dem gemäss sollten wir unser eignes Ich, Allem
zu Grunde legen. Aber hievon ist die Unmöglichkeit
und völlige Ungereimtheit, im Anfange des ersten Theils
dieses Buchs ausführlich nachgewiesen; und diese Unge-
reimtheit würde nur noch grösser werden, wenn man
(nach Fichte) das reine Ich zugleich denken wollte als
ursprünglich setzend ein Nicht-Ich. Daraus entspringt
die Ueberzeugung, dass wir, um uns selbst, sammt
unsern Vorstellungen von der Welt, denken zu
können; und um hiebey nicht in eine bodenlose Tiefe
des Unsinns zu gerathen, ein mannigfaltiges Reales in
allerley Verhältnissen und Lagen, voraussetzen müssen;
dessen Bestimmungen die allgemeine Metaphysik soweit
beschreibt, als sie zur Denkbarkeit der Erfahrung nö-
thig sind.

So gewiss nun solchergestalt die wahre Philosophie
streng und vollkommen realistisch ist: so bleibt es den-
noch wahr, dass alle Gegenstände des gemeinen und des
philosophischen Wissens lauter Vorstellungen sind; dass
alles Anschauen und Denken, alle Entbehrung und Be-
friedigung der Begierden, alle Lust und Unlust, in die

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Bevor wir dies alles mit mehr Bestimmtheit erörtern,
soll hier noch eine allgemeine Erinnerung statt finden,
welche nicht vergessen werden darf, wenn man sich in
psychologischen Untersuchungen wissenschaftlich orientiren
will. Diese nämlich, daſs eine nicht geringe Vertraut-
heit mit den Ansichten des Idealismus nöthig ist, um
die psychologischen Probleme richtig aufzufassen.

Es giebt überhaupt keinen gründlichen Realismus,
als nur allein den, welcher aus der Widerlegung des
Idealismus hervorgeht. Wer unmittelbar auf das Zeug-
niſs der Sinne sich beruft, wenn von der Realität der
Auſsendinge die Rede ist, der ist unwissend in den er-
sten Elementen der Philosophie.

Die Welt, welche uns erscheint, ist unser Wahr-
genommenes; also in uns. Die reale Welt, aus welcher
wir die Erscheinung erklären, ist unser Gedachtes; also
in uns. Dem gemäſs sollten wir unser eignes Ich, Allem
zu Grunde legen. Aber hievon ist die Unmöglichkeit
und völlige Ungereimtheit, im Anfange des ersten Theils
dieses Buchs ausführlich nachgewiesen; und diese Unge-
reimtheit würde nur noch gröſser werden, wenn man
(nach Fichte) das reine Ich zugleich denken wollte als
ursprünglich setzend ein Nicht-Ich. Daraus entspringt
die Ueberzeugung, daſs wir, um uns selbst, sammt
unsern Vorstellungen von der Welt, denken zu
können; und um hiebey nicht in eine bodenlose Tiefe
des Unsinns zu gerathen, ein mannigfaltiges Reales in
allerley Verhältnissen und Lagen, voraussetzen müssen;
dessen Bestimmungen die allgemeine Metaphysik soweit
beschreibt, als sie zur Denkbarkeit der Erfahrung nö-
thig sind.

So gewiſs nun solchergestalt die wahre Philosophie
streng und vollkommen realistisch ist: so bleibt es den-
noch wahr, daſs alle Gegenstände des gemeinen und des
philosophischen Wissens lauter Vorstellungen sind; daſs
alles Anschauen und Denken, alle Entbehrung und Be-
friedigung der Begierden, alle Lust und Unlust, in die

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[67/0102] Bevor wir dies alles mit mehr Bestimmtheit erörtern, soll hier noch eine allgemeine Erinnerung statt finden, welche nicht vergessen werden darf, wenn man sich in psychologischen Untersuchungen wissenschaftlich orientiren will. Diese nämlich, daſs eine nicht geringe Vertraut- heit mit den Ansichten des Idealismus nöthig ist, um die psychologischen Probleme richtig aufzufassen. Es giebt überhaupt keinen gründlichen Realismus, als nur allein den, welcher aus der Widerlegung des Idealismus hervorgeht. Wer unmittelbar auf das Zeug- niſs der Sinne sich beruft, wenn von der Realität der Auſsendinge die Rede ist, der ist unwissend in den er- sten Elementen der Philosophie. Die Welt, welche uns erscheint, ist unser Wahr- genommenes; also in uns. Die reale Welt, aus welcher wir die Erscheinung erklären, ist unser Gedachtes; also in uns. Dem gemäſs sollten wir unser eignes Ich, Allem zu Grunde legen. Aber hievon ist die Unmöglichkeit und völlige Ungereimtheit, im Anfange des ersten Theils dieses Buchs ausführlich nachgewiesen; und diese Unge- reimtheit würde nur noch gröſser werden, wenn man (nach Fichte) das reine Ich zugleich denken wollte als ursprünglich setzend ein Nicht-Ich. Daraus entspringt die Ueberzeugung, daſs wir, um uns selbst, sammt unsern Vorstellungen von der Welt, denken zu können; und um hiebey nicht in eine bodenlose Tiefe des Unsinns zu gerathen, ein mannigfaltiges Reales in allerley Verhältnissen und Lagen, voraussetzen müssen; dessen Bestimmungen die allgemeine Metaphysik soweit beschreibt, als sie zur Denkbarkeit der Erfahrung nö- thig sind. So gewiſs nun solchergestalt die wahre Philosophie streng und vollkommen realistisch ist: so bleibt es den- noch wahr, daſs alle Gegenstände des gemeinen und des philosophischen Wissens lauter Vorstellungen sind; daſs alles Anschauen und Denken, alle Entbehrung und Be- friedigung der Begierden, alle Lust und Unlust, in die E 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/102>, abgerufen am 26.04.2024.