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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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und allgemein bekannt. Nun aber verdirbt man alles, in-
dem man den Willen selbst wieder zurechnen möchte; wel-
ches nicht besser ist, als ob man das Maaß, das alles an-
dere messen soll, selbst einer Messung unterwerfen wollte.
So geschieht es, daß man fürchtet, wenn der Wille frühere
Ursachen hätte, aus denen er unvermeidlich hervorging, so
würden diese Ursachen die Schuld tragen, indem nunmehr
ihnen sowohl der Wille, als die aus ihm entsprungenen
Handlungen zuzurechnen wären. Darum will man lieber
den Willen einer Selbstbestimmung zurechnen; woraus eine
unendliche Reihe entsteht (vergl. Einleitung in die Philosophie
§. 107). Allein jene Furcht ist ganz grundlos. Die
Zurechnung steht still, sobald sie die Handlung auf den
Willen zurückgeführt hat; denn dieser wird hiemit sogleich
einem praktischen Urtheile unterworfen, welches sich voll-
kommen gleich bleibt, was auch für Ursachen und Anlässe
des Willens man möchte angeben können. Es, kann aber
begegnen, daß die Zurechnung noch einmal von neuem an-
fängt, wenn sich findet, daß jener Wille einen frühern
Willen zur Ursache hatte. Dem Verführten, nachdem er schon
vollständig bösartig geworden ist, werden seine Verbrechen
ganz zugerechnet, dieselben aber fallen noch einmal dem
Verführer zur Last, und so rückwärts fort, wie lange sich
noch irgendwo ein Wille als Urheber jener Verbrechen nach-
weisen läßt.

Anmerkung. Die transscendentale Freyheit, welche
Kant als einen notwendigen Glaubens-Artikel, um
des kategorischen Jmperativs willen (weil er die richtige
Begründung der praktischen Philosophie verfehlt hatte), an-
genommen wissen wollte, ist in der Psychologie ein voll-
kommener Fremdling. Wer das nicht einsieht, der studire
die beyden Kantischen Kritiken ber reinen und der prakti-
schen Vernunft; und lerne daraus, diesen Gegenstand vor-

und allgemein bekannt. Nun aber verdirbt man alles, in-
dem man den Willen selbst wieder zurechnen möchte; wel-
ches nicht besser ist, als ob man das Maaß, das alles an-
dere messen soll, selbst einer Messung unterwerfen wollte.
So geschieht es, daß man fürchtet, wenn der Wille frühere
Ursachen hätte, aus denen er unvermeidlich hervorging, so
würden diese Ursachen die Schuld tragen, indem nunmehr
ihnen sowohl der Wille, als die aus ihm entsprungenen
Handlungen zuzurechnen wären. Darum will man lieber
den Willen einer Selbstbestimmung zurechnen; woraus eine
unendliche Reihe entsteht (vergl. Einleitung in die Philosophie
§. 107). Allein jene Furcht ist ganz grundlos. Die
Zurechnung steht still, sobald sie die Handlung auf den
Willen zurückgeführt hat; denn dieser wird hiemit sogleich
einem praktischen Urtheile unterworfen, welches sich voll-
kommen gleich bleibt, was auch für Ursachen und Anlässe
des Willens man möchte angeben können. Es, kann aber
begegnen, daß die Zurechnung noch einmal von neuem an-
fängt, wenn sich findet, daß jener Wille einen frühern
Willen zur Ursache hatte. Dem Verführten, nachdem er schon
vollständig bösartig geworden ist, werden seine Verbrechen
ganz zugerechnet, dieselben aber fallen noch einmal dem
Verführer zur Last, und so rückwärts fort, wie lange sich
noch irgendwo ein Wille als Urheber jener Verbrechen nach-
weisen läßt.

Anmerkung. Die transscendentale Freyheit, welche
Kant als einen notwendigen Glaubens-Artikel, um
des kategorischen Jmperativs willen (weil er die richtige
Begründung der praktischen Philosophie verfehlt hatte), an-
genommen wissen wollte, ist in der Psychologie ein voll-
kommener Fremdling. Wer das nicht einsieht, der studire
die beyden Kantischen Kritiken ber reinen und der prakti-
schen Vernunft; und lerne daraus, diesen Gegenstand vor-

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[93/0101] und allgemein bekannt. Nun aber verdirbt man alles, in- dem man den Willen selbst wieder zurechnen möchte; wel- ches nicht besser ist, als ob man das Maaß, das alles an- dere messen soll, selbst einer Messung unterwerfen wollte. So geschieht es, daß man fürchtet, wenn der Wille frühere Ursachen hätte, aus denen er unvermeidlich hervorging, so würden diese Ursachen die Schuld tragen, indem nunmehr ihnen sowohl der Wille, als die aus ihm entsprungenen Handlungen zuzurechnen wären. Darum will man lieber den Willen einer Selbstbestimmung zurechnen; woraus eine unendliche Reihe entsteht (vergl. Einleitung in die Philosophie §. 107). Allein jene Furcht ist ganz grundlos. Die Zurechnung steht still, sobald sie die Handlung auf den Willen zurückgeführt hat; denn dieser wird hiemit sogleich einem praktischen Urtheile unterworfen, welches sich voll- kommen gleich bleibt, was auch für Ursachen und Anlässe des Willens man möchte angeben können. Es, kann aber begegnen, daß die Zurechnung noch einmal von neuem an- fängt, wenn sich findet, daß jener Wille einen frühern Willen zur Ursache hatte. Dem Verführten, nachdem er schon vollständig bösartig geworden ist, werden seine Verbrechen ganz zugerechnet, dieselben aber fallen noch einmal dem Verführer zur Last, und so rückwärts fort, wie lange sich noch irgendwo ein Wille als Urheber jener Verbrechen nach- weisen läßt. Anmerkung. Die transscendentale Freyheit, welche Kant als einen notwendigen Glaubens-Artikel, um des kategorischen Jmperativs willen (weil er die richtige Begründung der praktischen Philosophie verfehlt hatte), an- genommen wissen wollte, ist in der Psychologie ein voll- kommener Fremdling. Wer das nicht einsieht, der studire die beyden Kantischen Kritiken ber reinen und der prakti- schen Vernunft; und lerne daraus, diesen Gegenstand vor-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/101>, abgerufen am 27.04.2024.