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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Kritische Wälder.
in den Neigungen der Liebe das zarte Geschlecht mit
uns einerlei Gewicht in die Schaale legt, um den
Ton der Liebe zu bestimmen. Dies ist in den des-
potischen Morgenländern, wo die Weiberharems
Behältnisse von Sclavinnen sind, nicht. Hier ist
nur der Schleyer, und das Schloß das Siegel der
Schamhaftigkeit: nur die schwarzen Verschnitte-
nen die eigentlichen Zuchtmeister, und Zuchtbewah-
rer: nur die Mauer des Serrails die Grenze der
Keuschheit. Da mit dieser Extremität, so gut der
Keuschheit, als der Unkeuschheit, ihre Sphäre zu
wirken benommen wird: da der Schleyer, und das
Schloß nur die Gemüther der Weiber um so mehr
erhitzen, so muß natürlich auch die Schaam, je mehr
sie äußerlich bewacht wird, um so mehr vor dem ent-
fliehen, der sie bewachen ließ, und so kann es kom-
men, daß oft das schamhafte Geschlecht das
schamlose heißen könnte. Da es vermöge seiner
Natur zu erst, und am stärksten, und am längsten
die Neigungen der Liebe fühlt: was wird aus ihm,
wenn man diesen Begierden die Decke, die Hülle
wegnimmt, die ihnen die wohlthätige Natur gab?

Doch ich sage nur so viel. Jn einem Publi-
kum, wo das Frauenzimmer nicht mit zum Publi-
kum gehört: da kann auch ihre weibliche Sittlich-
keit keine Einflüsse in den Ton des Lebens äußern,
da wird nur der männliche Charakter die Denkart
des Ganzen bezeichnen. Und da nun die Scham-

haftig-

Kritiſche Waͤlder.
in den Neigungen der Liebe das zarte Geſchlecht mit
uns einerlei Gewicht in die Schaale legt, um den
Ton der Liebe zu beſtimmen. Dies iſt in den des-
potiſchen Morgenlaͤndern, wo die Weiberharems
Behaͤltniſſe von Sclavinnen ſind, nicht. Hier iſt
nur der Schleyer, und das Schloß das Siegel der
Schamhaftigkeit: nur die ſchwarzen Verſchnitte-
nen die eigentlichen Zuchtmeiſter, und Zuchtbewah-
rer: nur die Mauer des Serrails die Grenze der
Keuſchheit. Da mit dieſer Extremitaͤt, ſo gut der
Keuſchheit, als der Unkeuſchheit, ihre Sphaͤre zu
wirken benommen wird: da der Schleyer, und das
Schloß nur die Gemuͤther der Weiber um ſo mehr
erhitzen, ſo muß natuͤrlich auch die Schaam, je mehr
ſie aͤußerlich bewacht wird, um ſo mehr vor dem ent-
fliehen, der ſie bewachen ließ, und ſo kann es kom-
men, daß oft das ſchamhafte Geſchlecht das
ſchamloſe heißen koͤnnte. Da es vermoͤge ſeiner
Natur zu erſt, und am ſtaͤrkſten, und am laͤngſten
die Neigungen der Liebe fuͤhlt: was wird aus ihm,
wenn man dieſen Begierden die Decke, die Huͤlle
wegnimmt, die ihnen die wohlthaͤtige Natur gab?

Doch ich ſage nur ſo viel. Jn einem Publi-
kum, wo das Frauenzimmer nicht mit zum Publi-
kum gehoͤrt: da kann auch ihre weibliche Sittlich-
keit keine Einfluͤſſe in den Ton des Lebens aͤußern,
da wird nur der maͤnnliche Charakter die Denkart
des Ganzen bezeichnen. Und da nun die Scham-

haftig-
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[156/0162] Kritiſche Waͤlder. in den Neigungen der Liebe das zarte Geſchlecht mit uns einerlei Gewicht in die Schaale legt, um den Ton der Liebe zu beſtimmen. Dies iſt in den des- potiſchen Morgenlaͤndern, wo die Weiberharems Behaͤltniſſe von Sclavinnen ſind, nicht. Hier iſt nur der Schleyer, und das Schloß das Siegel der Schamhaftigkeit: nur die ſchwarzen Verſchnitte- nen die eigentlichen Zuchtmeiſter, und Zuchtbewah- rer: nur die Mauer des Serrails die Grenze der Keuſchheit. Da mit dieſer Extremitaͤt, ſo gut der Keuſchheit, als der Unkeuſchheit, ihre Sphaͤre zu wirken benommen wird: da der Schleyer, und das Schloß nur die Gemuͤther der Weiber um ſo mehr erhitzen, ſo muß natuͤrlich auch die Schaam, je mehr ſie aͤußerlich bewacht wird, um ſo mehr vor dem ent- fliehen, der ſie bewachen ließ, und ſo kann es kom- men, daß oft das ſchamhafte Geſchlecht das ſchamloſe heißen koͤnnte. Da es vermoͤge ſeiner Natur zu erſt, und am ſtaͤrkſten, und am laͤngſten die Neigungen der Liebe fuͤhlt: was wird aus ihm, wenn man dieſen Begierden die Decke, die Huͤlle wegnimmt, die ihnen die wohlthaͤtige Natur gab? Doch ich ſage nur ſo viel. Jn einem Publi- kum, wo das Frauenzimmer nicht mit zum Publi- kum gehoͤrt: da kann auch ihre weibliche Sittlich- keit keine Einfluͤſſe in den Ton des Lebens aͤußern, da wird nur der maͤnnliche Charakter die Denkart des Ganzen bezeichnen. Und da nun die Scham- haftig-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/162>, abgerufen am 26.04.2024.