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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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"schen unterschieden hätte." Und nach den
Zeugnissen der Alten, und nach einer Philoso-
phischen Känntniß von der Verwandlung ei-
ner Sprache nach den Sitten heißt er so:
Jede Nation lieferte die vortreflichste Meister-
stücke der Poesie, ehe sich noch die Prose von
jener getrennet und zu ihrer Runde ausgebil-
det hatte. Da die Sprache aus der Wild-
heit zur Politischen Ruhe trat, war sie merk-
lich von der Prosaischen unterschieden: die
stärksten Machtwörter, die reichste Frucht-
barkeit, kühne Jnversionen, einfache Parti-
ckeln, der klingendste Rhythmus, die stärkste
Declamation -- alles belebte sie, um ihr ei-
nen sinnlichen Nachdruck zu geben, um sie zur
Poetischen zu erheben. Aber da die Prose
aufkam, die zuerst, wie Herodot, auch noch
ihren Perioden, ohne Schwung und Fülle
zerfallen ließ da sie sich mehr zur Vollkom-
menheit
bildete, entfernte sie sich von der
sinnlichen Schönheit. Der Deutlichkeit we-
gen wurden die Machtwörter umschrieben,
die Synonyme ausgesucht, bestimmt, ausge-
mustert, die Jdiotismen gemildert: so wie
das Völkerrecht jezt im Staat zum Gesezz

ward:

„ſchen unterſchieden haͤtte.„ Und nach den
Zeugniſſen der Alten, und nach einer Philoſo-
phiſchen Kaͤnntniß von der Verwandlung ei-
ner Sprache nach den Sitten heißt er ſo:
Jede Nation lieferte die vortreflichſte Meiſter-
ſtuͤcke der Poeſie, ehe ſich noch die Proſe von
jener getrennet und zu ihrer Runde ausgebil-
det hatte. Da die Sprache aus der Wild-
heit zur Politiſchen Ruhe trat, war ſie merk-
lich von der Proſaiſchen unterſchieden: die
ſtaͤrkſten Machtwoͤrter, die reichſte Frucht-
barkeit, kuͤhne Jnverſionen, einfache Parti-
ckeln, der klingendſte Rhythmus, die ſtaͤrkſte
Declamation — alles belebte ſie, um ihr ei-
nen ſinnlichen Nachdruck zu geben, um ſie zur
Poetiſchen zu erheben. Aber da die Proſe
aufkam, die zuerſt, wie Herodot, auch noch
ihren Perioden, ohne Schwung und Fuͤlle
zerfallen ließ da ſie ſich mehr zur Vollkom-
menheit
bildete, entfernte ſie ſich von der
ſinnlichen Schoͤnheit. Der Deutlichkeit we-
gen wurden die Machtwoͤrter umſchrieben,
die Synonyme ausgeſucht, beſtimmt, ausge-
muſtert, die Jdiotismen gemildert: ſo wie
das Voͤlkerrecht jezt im Staat zum Geſezz

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[36/0040] „ſchen unterſchieden haͤtte.„ Und nach den Zeugniſſen der Alten, und nach einer Philoſo- phiſchen Kaͤnntniß von der Verwandlung ei- ner Sprache nach den Sitten heißt er ſo: Jede Nation lieferte die vortreflichſte Meiſter- ſtuͤcke der Poeſie, ehe ſich noch die Proſe von jener getrennet und zu ihrer Runde ausgebil- det hatte. Da die Sprache aus der Wild- heit zur Politiſchen Ruhe trat, war ſie merk- lich von der Proſaiſchen unterſchieden: die ſtaͤrkſten Machtwoͤrter, die reichſte Frucht- barkeit, kuͤhne Jnverſionen, einfache Parti- ckeln, der klingendſte Rhythmus, die ſtaͤrkſte Declamation — alles belebte ſie, um ihr ei- nen ſinnlichen Nachdruck zu geben, um ſie zur Poetiſchen zu erheben. Aber da die Proſe aufkam, die zuerſt, wie Herodot, auch noch ihren Perioden, ohne Schwung und Fuͤlle zerfallen ließ da ſie ſich mehr zur Vollkom- menheit bildete, entfernte ſie ſich von der ſinnlichen Schoͤnheit. Der Deutlichkeit we- gen wurden die Machtwoͤrter umſchrieben, die Synonyme ausgeſucht, beſtimmt, ausge- muſtert, die Jdiotismen gemildert: ſo wie das Voͤlkerrecht jezt im Staat zum Geſezz ward:

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/40>, abgerufen am 26.04.2024.