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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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künstlern: Erde und Wasser bleibt ihnen;
die Flamme verflog, und der Geist blieb un-
sichtbar; allen ihren Chymischen Zusammen-
sezzungen können sie nach dem, was sie bei der
Scheidekunst gewahr wurden, zwar Farbe,
Geruch und Geschmack, nie aber die Kraft der
Natur geben. Je mehr Seelenkräfte der
Weltweise herzählet, die zum Genie gehören;
je mehr Jngredienzien er in diesem Salböl der
Geister antrift, je mehr kann ich zweiflen, ob
mir nicht eine davon entging: und niemand
war groß, der an seiner Größe zweifelte, und
jemand höher, als sich, schäzzte. Je feiner
die Regeln sind, die du aus der Natur des
Genies herleitest: desto furchtsamer wird der
Bersuch, der sich endlich nichts höhers vorsezzt,
als Fehlerlos zu seyn.

Jener Baumeister im Plutarch, sagte
hinter den prächtigen Entwürfen seines Vor-
gängers: alles, was er gesagt hat, will
ich thun!
-- Und der kann zuerst ein Mei-
ster in Jsrael werden, der andern vorarbei-
tet:
die armen Stümper, quibus peiore
ex luto finxit praecordia Titan,
werden
ihm gern nachfolgen. Woher glühet uns bel

der
O 4

kuͤnſtlern: Erde und Waſſer bleibt ihnen;
die Flamme verflog, und der Geiſt blieb un-
ſichtbar; allen ihren Chymiſchen Zuſammen-
ſezzungen koͤnnen ſie nach dem, was ſie bei der
Scheidekunſt gewahr wurden, zwar Farbe,
Geruch und Geſchmack, nie aber die Kraft der
Natur geben. Je mehr Seelenkraͤfte der
Weltweiſe herzaͤhlet, die zum Genie gehoͤren;
je mehr Jngredienzien er in dieſem Salboͤl der
Geiſter antrift, je mehr kann ich zweiflen, ob
mir nicht eine davon entging: und niemand
war groß, der an ſeiner Groͤße zweifelte, und
jemand hoͤher, als ſich, ſchaͤzzte. Je feiner
die Regeln ſind, die du aus der Natur des
Genies herleiteſt: deſto furchtſamer wird der
Berſuch, der ſich endlich nichts hoͤhers vorſezzt,
als Fehlerlos zu ſeyn.

Jener Baumeiſter im Plutarch, ſagte
hinter den praͤchtigen Entwuͤrfen ſeines Vor-
gaͤngers: alles, was er geſagt hat, will
ich thun!
— Und der kann zuerſt ein Mei-
ſter in Jſrael werden, der andern vorarbei-
tet:
die armen Stuͤmper, quibus peiore
ex luto finxit praecordia Titan,
werden
ihm gern nachfolgen. Woher gluͤhet uns bel

der
O 4
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[203/0035] kuͤnſtlern: Erde und Waſſer bleibt ihnen; die Flamme verflog, und der Geiſt blieb un- ſichtbar; allen ihren Chymiſchen Zuſammen- ſezzungen koͤnnen ſie nach dem, was ſie bei der Scheidekunſt gewahr wurden, zwar Farbe, Geruch und Geſchmack, nie aber die Kraft der Natur geben. Je mehr Seelenkraͤfte der Weltweiſe herzaͤhlet, die zum Genie gehoͤren; je mehr Jngredienzien er in dieſem Salboͤl der Geiſter antrift, je mehr kann ich zweiflen, ob mir nicht eine davon entging: und niemand war groß, der an ſeiner Groͤße zweifelte, und jemand hoͤher, als ſich, ſchaͤzzte. Je feiner die Regeln ſind, die du aus der Natur des Genies herleiteſt: deſto furchtſamer wird der Berſuch, der ſich endlich nichts hoͤhers vorſezzt, als Fehlerlos zu ſeyn. Jener Baumeiſter im Plutarch, ſagte hinter den praͤchtigen Entwuͤrfen ſeines Vor- gaͤngers: alles, was er geſagt hat, will ich thun! — Und der kann zuerſt ein Mei- ſter in Jſrael werden, der andern vorarbei- tet: die armen Stuͤmper, quibus peiore ex luto finxit praecordia Titan, werden ihm gern nachfolgen. Woher gluͤhet uns bel der O 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/35>, abgerufen am 27.04.2024.