Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Künstler: denn ohne sie war kein Liebhaber,
kein Künstler. Der elende Tropf, der vorm Mo-
dell sitzt und alles platt und flach siehet, der Arme,
der vor der lebenden Person steht und nur ein Far-
benbrett an ihr gewahr wird, sind Klecker, nicht
Künstler. Sollen die Figuren von der Leinwand
vortreten, wachsen, sich beseelen, sprechen, han-
deln; gewiß so musten sie dem Künstler auch so
erscheinen und von ihm gefühlt seyn. Phidias,
der den Donnergott bildete, als er im Homer las
und vom Haupte Jupiters, von seiner fallenden
Locke ihm Kraft herabsank, dem Gotte näher zu
treten und ihn zu umfangen in Majestät und Liebe:
Apollonius Nestorides, der den Herkules mach-
te und den Riesenbezwinger in Brust, in Hüften,
in Armen, im ganzen Körper fühlte: Agasias,
als er den Fechter schuf und in allen Sehnen ihn
tastete und in allen Kräften ihn hingab; wenn diese
nicht begeistert sprechen dorften, wer darfs denn?
Sie sprachen durch ihr Werk und schwiegen: der
Liebhaber fühlt, schafft ihnen nach und stammlet
im Umfang, im Meere von Leben, was ihn er-
greifet. -- Ueberhaupt, je näher wir einem Ge-
genstande kommen, desto lebendiger wird unsre
Sprache, und je lebendiger wir ihn von fern her
fühlen, desto beschwerlicher wird uns der trennen-
de Raum, desto mehr wollen wir zu ihm. Wehe
dem Liebhaber, der in behaglicher Ruhe seine Ge-

liebte
B 3

dem Kuͤnſtler: denn ohne ſie war kein Liebhaber,
kein Kuͤnſtler. Der elende Tropf, der vorm Mo-
dell ſitzt und alles platt und flach ſiehet, der Arme,
der vor der lebenden Perſon ſteht und nur ein Far-
benbrett an ihr gewahr wird, ſind Klecker, nicht
Kuͤnſtler. Sollen die Figuren von der Leinwand
vortreten, wachſen, ſich beſeelen, ſprechen, han-
deln; gewiß ſo muſten ſie dem Kuͤnſtler auch ſo
erſcheinen und von ihm gefuͤhlt ſeyn. Phidias,
der den Donnergott bildete, als er im Homer las
und vom Haupte Jupiters, von ſeiner fallenden
Locke ihm Kraft herabſank, dem Gotte naͤher zu
treten und ihn zu umfangen in Majeſtaͤt und Liebe:
Apollonius Neſtorides, der den Herkules mach-
te und den Rieſenbezwinger in Bruſt, in Huͤften,
in Armen, im ganzen Koͤrper fuͤhlte: Agaſias,
als er den Fechter ſchuf und in allen Sehnen ihn
taſtete und in allen Kraͤften ihn hingab; wenn dieſe
nicht begeiſtert ſprechen dorften, wer darfs denn?
Sie ſprachen durch ihr Werk und ſchwiegen: der
Liebhaber fuͤhlt, ſchafft ihnen nach und ſtammlet
im Umfang, im Meere von Leben, was ihn er-
greifet. — Ueberhaupt, je naͤher wir einem Ge-
genſtande kommen, deſto lebendiger wird unſre
Sprache, und je lebendiger wir ihn von fern her
fuͤhlen, deſto beſchwerlicher wird uns der trennen-
de Raum, deſto mehr wollen wir zu ihm. Wehe
dem Liebhaber, der in behaglicher Ruhe ſeine Ge-

liebte
B 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0024" n="21"/>
dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler: denn ohne &#x017F;ie war kein Liebhaber,<lb/>
kein Ku&#x0364;n&#x017F;tler. Der elende Tropf, der vorm Mo-<lb/>
dell &#x017F;itzt und alles platt und flach &#x017F;iehet, der Arme,<lb/>
der vor der lebenden Per&#x017F;on &#x017F;teht und nur ein Far-<lb/>
benbrett an ihr gewahr wird, &#x017F;ind Klecker, nicht<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;tler. Sollen die Figuren von der Leinwand<lb/>
vortreten, wach&#x017F;en, &#x017F;ich be&#x017F;eelen, &#x017F;prechen, han-<lb/>
deln; gewiß &#x017F;o mu&#x017F;ten &#x017F;ie dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler auch &#x017F;o<lb/>
er&#x017F;cheinen und von ihm gefu&#x0364;hlt &#x017F;eyn. <hi rendition="#fr">Phidias</hi>,<lb/>
der den Donnergott bildete, als er im Homer las<lb/>
und vom Haupte Jupiters, von &#x017F;einer fallenden<lb/>
Locke ihm Kraft herab&#x017F;ank, dem Gotte na&#x0364;her zu<lb/>
treten und ihn zu umfangen in Maje&#x017F;ta&#x0364;t und Liebe:<lb/><hi rendition="#fr">Apollonius Ne&#x017F;torides</hi>, der den Herkules mach-<lb/>
te und den Rie&#x017F;enbezwinger in Bru&#x017F;t, in Hu&#x0364;ften,<lb/>
in Armen, im ganzen Ko&#x0364;rper fu&#x0364;hlte: <hi rendition="#fr">Aga&#x017F;ias</hi>,<lb/>
als er den Fechter &#x017F;chuf und in allen Sehnen ihn<lb/>
ta&#x017F;tete und in allen Kra&#x0364;ften ihn hingab; wenn die&#x017F;e<lb/>
nicht begei&#x017F;tert &#x017F;prechen dorften, wer darfs denn?<lb/>
Sie &#x017F;prachen durch ihr Werk und &#x017F;chwiegen: der<lb/>
Liebhaber fu&#x0364;hlt, &#x017F;chafft ihnen nach und &#x017F;tammlet<lb/>
im Umfang, im Meere von Leben, was ihn er-<lb/>
greifet. &#x2014; Ueberhaupt, je <hi rendition="#fr">na&#x0364;her</hi> wir einem Ge-<lb/>
gen&#x017F;tande kommen, de&#x017F;to <hi rendition="#fr">lebendiger</hi> wird un&#x017F;re<lb/>
Sprache, und je lebendiger wir ihn <hi rendition="#fr">von fern her</hi><lb/>
fu&#x0364;hlen, de&#x017F;to be&#x017F;chwerlicher wird uns der trennen-<lb/>
de Raum, de&#x017F;to mehr wollen wir zu ihm. Wehe<lb/>
dem Liebhaber, der in behaglicher Ruhe &#x017F;eine Ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 3</fw><fw place="bottom" type="catch">liebte</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0024] dem Kuͤnſtler: denn ohne ſie war kein Liebhaber, kein Kuͤnſtler. Der elende Tropf, der vorm Mo- dell ſitzt und alles platt und flach ſiehet, der Arme, der vor der lebenden Perſon ſteht und nur ein Far- benbrett an ihr gewahr wird, ſind Klecker, nicht Kuͤnſtler. Sollen die Figuren von der Leinwand vortreten, wachſen, ſich beſeelen, ſprechen, han- deln; gewiß ſo muſten ſie dem Kuͤnſtler auch ſo erſcheinen und von ihm gefuͤhlt ſeyn. Phidias, der den Donnergott bildete, als er im Homer las und vom Haupte Jupiters, von ſeiner fallenden Locke ihm Kraft herabſank, dem Gotte naͤher zu treten und ihn zu umfangen in Majeſtaͤt und Liebe: Apollonius Neſtorides, der den Herkules mach- te und den Rieſenbezwinger in Bruſt, in Huͤften, in Armen, im ganzen Koͤrper fuͤhlte: Agaſias, als er den Fechter ſchuf und in allen Sehnen ihn taſtete und in allen Kraͤften ihn hingab; wenn dieſe nicht begeiſtert ſprechen dorften, wer darfs denn? Sie ſprachen durch ihr Werk und ſchwiegen: der Liebhaber fuͤhlt, ſchafft ihnen nach und ſtammlet im Umfang, im Meere von Leben, was ihn er- greifet. — Ueberhaupt, je naͤher wir einem Ge- genſtande kommen, deſto lebendiger wird unſre Sprache, und je lebendiger wir ihn von fern her fuͤhlen, deſto beſchwerlicher wird uns der trennen- de Raum, deſto mehr wollen wir zu ihm. Wehe dem Liebhaber, der in behaglicher Ruhe ſeine Ge- liebte B 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/24
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/24>, abgerufen am 26.04.2024.