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Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878.

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muß, weil sonst jede weitere physiologische Untersuchung zweck-
los wäre, so muß er auch sogenannte psychophysische Processe
oder Bewegungen annehmen, welche den Empfindungen des
Schwarzen, des Weißen und aller Übergänge zwischen beiden
entsprechen. In welchem Theile des Nervensystems diese psycho-
physischen Processe localisirt zu denken sind, läßt sich noch
nicht sagen. Genug, es muß irgendwo im nervösen Apparate
des Auges und den damit in functioneller Beziehung stehenden
Hirntheilen die Substanz gesucht werden, mit deren Veränderung
oder Bewegung die Empfindung verknüpft ist. Diese Substanz
könnten wir als die psychophysische Substanz des Sehorganes
beziehentlich des Gehirns bezeichnen. Kürzer wird es sein, sie
als Sehsubstanz zu benennen, weil die Gesichtsempfindungen
an sie gebunden und unmittelbar durch sie gegeben sind. Ob
diese Sehsubstanz nur im Gehirn oder zugleich im Sehnerven
und in der Netzhaut, und in welchen histologischen Bestand-
theilen derselben sie zu suchen ist, dies alles bleibt vorerst da-
hingestellt.

Es ist ersichtlich, daß wir aus der Art und dem Verlaufe
unserer Gesichtsempfindungen zunächst nur Schlüsse machen
können auf den Verlauf der psychophysischen Processe, welche
in der Sehsubstanz ablaufen; denn mit diesen sind die Empfin-
dungen unmittelbar und gesetzmäßig verknüpft zu denken. Können
wir auf diese Weise die Gesetze des psychophysischen Geschehens
in der Sehsubstanz bis zu einem gewissen Grade feststellen, so
ist es dann erst an der Zeit, die Gesetze des functionellen Zu-
sammenhanges zwischen jenen psychophysischen Processen und
den Aetherschwingungen zu suchen. Der umgekehrte Weg, wel-
cher von den Aetherschwingungen ausgeht, hat bis jetzt, so weit
es sich nicht blos um die Schicksale der Lichtstrahlen in den
optischen Medien, also lediglich um eine Application der physi-
kalischen Optik auf's Auge handelte, noch zu keinem Ergebnisse
geführt; wir wissen gar nicht, was weiter geschieht, wenn ein-
mal die Lichtwellen in die Netzhaut eingedrungen sind. Dagegen
haben wir allerdings durch zahlreiche physikalische Untersu-
chungen die werthvollsten Aufschlüsse über die Beziehungen
zwischen Ätherschwingungen und Lichtempfindungen erhalten.
Aber hierbei wurden, und zwar vorerst ganz zweckmäßigerweise,

muß, weil sonst jede weitere physiologische Untersuchung zweck-
los wäre, so muß er auch sogenannte psychophysische Processe
oder Bewegungen annehmen, welche den Empfindungen des
Schwarzen, des Weißen und aller Übergänge zwischen beiden
entsprechen. In welchem Theile des Nervensystems diese psycho-
physischen Processe localisirt zu denken sind, läßt sich noch
nicht sagen. Genug, es muß irgendwo im nervösen Apparate
des Auges und den damit in functioneller Beziehung stehenden
Hirntheilen die Substanz gesucht werden, mit deren Veränderung
oder Bewegung die Empfindung verknüpft ist. Diese Substanz
könnten wir als die psychophysische Substanz des Sehorganes
beziehentlich des Gehirns bezeichnen. Kürzer wird es sein, sie
als Sehsubstanz zu benennen, weil die Gesichtsempfindungen
an sie gebunden und unmittelbar durch sie gegeben sind. Ob
diese Sehsubstanz nur im Gehirn oder zugleich im Sehnerven
und in der Netzhaut, und in welchen histologischen Bestand-
theilen derselben sie zu suchen ist, dies alles bleibt vorerst da-
hingestellt.

Es ist ersichtlich, daß wir aus der Art und dem Verlaufe
unserer Gesichtsempfindungen zunächst nur Schlüsse machen
können auf den Verlauf der psychophysischen Processe, welche
in der Sehsubstanz ablaufen; denn mit diesen sind die Empfin-
dungen unmittelbar und gesetzmäßig verknüpft zu denken. Können
wir auf diese Weise die Gesetze des psychophysischen Geschehens
in der Sehsubstanz bis zu einem gewissen Grade feststellen, so
ist es dann erst an der Zeit, die Gesetze des functionellen Zu-
sammenhanges zwischen jenen psychophysischen Processen und
den Aetherschwingungen zu suchen. Der umgekehrte Weg, wel-
cher von den Aetherschwingungen ausgeht, hat bis jetzt, so weit
es sich nicht blos um die Schicksale der Lichtstrahlen in den
optischen Medien, also lediglich um eine Application der physi-
kalischen Optik auf’s Auge handelte, noch zu keinem Ergebnisse
geführt; wir wissen gar nicht, was weiter geschieht, wenn ein-
mal die Lichtwellen in die Netzhaut eingedrungen sind. Dagegen
haben wir allerdings durch zahlreiche physikalische Untersu-
chungen die werthvollsten Aufschlüsse über die Beziehungen
zwischen Ätherschwingungen und Lichtempfindungen erhalten.
Aber hierbei wurden, und zwar vorerst ganz zweckmäßigerweise,

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[72/0080] muß, weil sonst jede weitere physiologische Untersuchung zweck- los wäre, so muß er auch sogenannte psychophysische Processe oder Bewegungen annehmen, welche den Empfindungen des Schwarzen, des Weißen und aller Übergänge zwischen beiden entsprechen. In welchem Theile des Nervensystems diese psycho- physischen Processe localisirt zu denken sind, läßt sich noch nicht sagen. Genug, es muß irgendwo im nervösen Apparate des Auges und den damit in functioneller Beziehung stehenden Hirntheilen die Substanz gesucht werden, mit deren Veränderung oder Bewegung die Empfindung verknüpft ist. Diese Substanz könnten wir als die psychophysische Substanz des Sehorganes beziehentlich des Gehirns bezeichnen. Kürzer wird es sein, sie als Sehsubstanz zu benennen, weil die Gesichtsempfindungen an sie gebunden und unmittelbar durch sie gegeben sind. Ob diese Sehsubstanz nur im Gehirn oder zugleich im Sehnerven und in der Netzhaut, und in welchen histologischen Bestand- theilen derselben sie zu suchen ist, dies alles bleibt vorerst da- hingestellt. Es ist ersichtlich, daß wir aus der Art und dem Verlaufe unserer Gesichtsempfindungen zunächst nur Schlüsse machen können auf den Verlauf der psychophysischen Processe, welche in der Sehsubstanz ablaufen; denn mit diesen sind die Empfin- dungen unmittelbar und gesetzmäßig verknüpft zu denken. Können wir auf diese Weise die Gesetze des psychophysischen Geschehens in der Sehsubstanz bis zu einem gewissen Grade feststellen, so ist es dann erst an der Zeit, die Gesetze des functionellen Zu- sammenhanges zwischen jenen psychophysischen Processen und den Aetherschwingungen zu suchen. Der umgekehrte Weg, wel- cher von den Aetherschwingungen ausgeht, hat bis jetzt, so weit es sich nicht blos um die Schicksale der Lichtstrahlen in den optischen Medien, also lediglich um eine Application der physi- kalischen Optik auf’s Auge handelte, noch zu keinem Ergebnisse geführt; wir wissen gar nicht, was weiter geschieht, wenn ein- mal die Lichtwellen in die Netzhaut eingedrungen sind. Dagegen haben wir allerdings durch zahlreiche physikalische Untersu- chungen die werthvollsten Aufschlüsse über die Beziehungen zwischen Ätherschwingungen und Lichtempfindungen erhalten. Aber hierbei wurden, und zwar vorerst ganz zweckmäßigerweise,

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Zitationshilfe: Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878/80>, abgerufen am 26.04.2024.