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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 3. Leipzig, 1780.

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Einsiedeleyen, Capellen und Ruinen.
Nichts giebt einen sichtbarern Beweis von der Länge der Zeit, als wenn der Ort, den
ein Gebäude zierte, mit Moos, mit Gras und grünem Gesträuch überzogen ist. Eine
Menge von Epheu, der aus dem Innern einer zerbrochenen Thurmspitze hervorwäch-
set, ein Kirschbaum, der einsam und gekrümmt zwischen einem zerfallenen Gemäuer
blühet, Gesträuche, die aus den Fenstern herabhangen, ein Bach, der zwischen den
Steinen einer halb kenntlichen Treppe herabmurmelt -- alle diese Veränderungen,
welche oft die wirklichen Ruinen begleiten, kündigen sehr lebhaft die Macht der Zeit
an, und sind zugleich Zubehör und Verzierung der Ruinen, welche die Kunst anlegt.
Andere Zufälligkeiten können einen noch weit mehr rührenden Contrast zwischen den
Ruinen und der vorigen Herrlichkeit der Gebäude machen.

Welche Empfindungen von Wehmuth, von Melancholie und Trauer bemäch-
tigten sich nicht zuweilen der reisenden Bewunderer des Alterthums, wenn sie, in den
ehemals prächtig bebaueten Gegenden Griechenlands, Schlafstellen der Hirten und
Höhlen der wilden Thiere zwischen den Ueberbleibseln der Tempel fanden! Chand-
ler
*) beschreibt einen solchen feyerlichrührenden Auftritt, als er die Ruinen von dem
Tempel des Apollo zu Ura, nicht weit von Miletus, sah. Die Säulen waren noch
so ungemein schön, die Marmormasse so groß und edel, daß es vielleicht unmöglich ist,
sich mehr Schönheit und Majestät in Trümmern zu denken. Als es Abend ward,
breitete sich eine große, in ihre Hürde zurückkehrende Ziegenheerde mit läutenden Schellen
über den Ruinenhaufen aus, und kletterte umher, die Büsche und Bäume abzunagen,
die zwischen den ungeheuern Steinen wachsen. Die ganze Masse ward mit einer
Mannigfaltigkeit reicher Tinten von der untergehenden Sonne erleuchtet, und warf
einen sehr starken Schatten. Das Meer in der Ferne war eben und glänzend, und
von einer bergichten Küste mit felsichten Inseln begränzt. -- Allein wir dürfen Zu-
fälligkeiten bey Ruinen nicht so weit her suchen. Eine Eule, die in einem zerstörten
Thurm wohnt, eine Familie von Krähen, die sich zwischen altem Gemäuer häuslich
niedergelassen hat, eine kleine Hürde für Schafe sind keine seltene Erscheinung bey
Ruinen; sie verstärkt den Begriff von dem Oeden eines Orts, den der Mensch schon
lange verlassen hat. Aber wo auch solche Zufälligkeiten fehlen, da wird doch eine
Verwilderung in Gras, Moos, Epheu und andere rankende Gewächse, eine Unter-
brechung mit dickem Gesträuch, eine Verschließung mit ungestalten Bäumen das Na-
türliche der Ruinen vermehren können.

4. Home
*) Reisen in Kleinasien, 43stes Kap.
III Band. P

Einſiedeleyen, Capellen und Ruinen.
Nichts giebt einen ſichtbarern Beweis von der Laͤnge der Zeit, als wenn der Ort, den
ein Gebaͤude zierte, mit Moos, mit Gras und gruͤnem Geſtraͤuch uͤberzogen iſt. Eine
Menge von Epheu, der aus dem Innern einer zerbrochenen Thurmſpitze hervorwaͤch-
ſet, ein Kirſchbaum, der einſam und gekruͤmmt zwiſchen einem zerfallenen Gemaͤuer
bluͤhet, Geſtraͤuche, die aus den Fenſtern herabhangen, ein Bach, der zwiſchen den
Steinen einer halb kenntlichen Treppe herabmurmelt — alle dieſe Veraͤnderungen,
welche oft die wirklichen Ruinen begleiten, kuͤndigen ſehr lebhaft die Macht der Zeit
an, und ſind zugleich Zubehoͤr und Verzierung der Ruinen, welche die Kunſt anlegt.
Andere Zufaͤlligkeiten koͤnnen einen noch weit mehr ruͤhrenden Contraſt zwiſchen den
Ruinen und der vorigen Herrlichkeit der Gebaͤude machen.

Welche Empfindungen von Wehmuth, von Melancholie und Trauer bemaͤch-
tigten ſich nicht zuweilen der reiſenden Bewunderer des Alterthums, wenn ſie, in den
ehemals praͤchtig bebaueten Gegenden Griechenlands, Schlafſtellen der Hirten und
Hoͤhlen der wilden Thiere zwiſchen den Ueberbleibſeln der Tempel fanden! Chand-
ler
*) beſchreibt einen ſolchen feyerlichruͤhrenden Auftritt, als er die Ruinen von dem
Tempel des Apollo zu Ura, nicht weit von Miletus, ſah. Die Saͤulen waren noch
ſo ungemein ſchoͤn, die Marmormaſſe ſo groß und edel, daß es vielleicht unmoͤglich iſt,
ſich mehr Schoͤnheit und Majeſtaͤt in Truͤmmern zu denken. Als es Abend ward,
breitete ſich eine große, in ihre Huͤrde zuruͤckkehrende Ziegenheerde mit laͤutenden Schellen
uͤber den Ruinenhaufen aus, und kletterte umher, die Buͤſche und Baͤume abzunagen,
die zwiſchen den ungeheuern Steinen wachſen. Die ganze Maſſe ward mit einer
Mannigfaltigkeit reicher Tinten von der untergehenden Sonne erleuchtet, und warf
einen ſehr ſtarken Schatten. Das Meer in der Ferne war eben und glaͤnzend, und
von einer bergichten Kuͤſte mit felſichten Inſeln begraͤnzt. — Allein wir duͤrfen Zu-
faͤlligkeiten bey Ruinen nicht ſo weit her ſuchen. Eine Eule, die in einem zerſtoͤrten
Thurm wohnt, eine Familie von Kraͤhen, die ſich zwiſchen altem Gemaͤuer haͤuslich
niedergelaſſen hat, eine kleine Huͤrde fuͤr Schafe ſind keine ſeltene Erſcheinung bey
Ruinen; ſie verſtaͤrkt den Begriff von dem Oeden eines Orts, den der Menſch ſchon
lange verlaſſen hat. Aber wo auch ſolche Zufaͤlligkeiten fehlen, da wird doch eine
Verwilderung in Gras, Moos, Epheu und andere rankende Gewaͤchſe, eine Unter-
brechung mit dickem Geſtraͤuch, eine Verſchließung mit ungeſtalten Baͤumen das Na-
tuͤrliche der Ruinen vermehren koͤnnen.

4. Home
*) Reiſen in Kleinaſien, 43ſtes Kap.
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[113/0117] Einſiedeleyen, Capellen und Ruinen. Nichts giebt einen ſichtbarern Beweis von der Laͤnge der Zeit, als wenn der Ort, den ein Gebaͤude zierte, mit Moos, mit Gras und gruͤnem Geſtraͤuch uͤberzogen iſt. Eine Menge von Epheu, der aus dem Innern einer zerbrochenen Thurmſpitze hervorwaͤch- ſet, ein Kirſchbaum, der einſam und gekruͤmmt zwiſchen einem zerfallenen Gemaͤuer bluͤhet, Geſtraͤuche, die aus den Fenſtern herabhangen, ein Bach, der zwiſchen den Steinen einer halb kenntlichen Treppe herabmurmelt — alle dieſe Veraͤnderungen, welche oft die wirklichen Ruinen begleiten, kuͤndigen ſehr lebhaft die Macht der Zeit an, und ſind zugleich Zubehoͤr und Verzierung der Ruinen, welche die Kunſt anlegt. Andere Zufaͤlligkeiten koͤnnen einen noch weit mehr ruͤhrenden Contraſt zwiſchen den Ruinen und der vorigen Herrlichkeit der Gebaͤude machen. Welche Empfindungen von Wehmuth, von Melancholie und Trauer bemaͤch- tigten ſich nicht zuweilen der reiſenden Bewunderer des Alterthums, wenn ſie, in den ehemals praͤchtig bebaueten Gegenden Griechenlands, Schlafſtellen der Hirten und Hoͤhlen der wilden Thiere zwiſchen den Ueberbleibſeln der Tempel fanden! Chand- ler *) beſchreibt einen ſolchen feyerlichruͤhrenden Auftritt, als er die Ruinen von dem Tempel des Apollo zu Ura, nicht weit von Miletus, ſah. Die Saͤulen waren noch ſo ungemein ſchoͤn, die Marmormaſſe ſo groß und edel, daß es vielleicht unmoͤglich iſt, ſich mehr Schoͤnheit und Majeſtaͤt in Truͤmmern zu denken. Als es Abend ward, breitete ſich eine große, in ihre Huͤrde zuruͤckkehrende Ziegenheerde mit laͤutenden Schellen uͤber den Ruinenhaufen aus, und kletterte umher, die Buͤſche und Baͤume abzunagen, die zwiſchen den ungeheuern Steinen wachſen. Die ganze Maſſe ward mit einer Mannigfaltigkeit reicher Tinten von der untergehenden Sonne erleuchtet, und warf einen ſehr ſtarken Schatten. Das Meer in der Ferne war eben und glaͤnzend, und von einer bergichten Kuͤſte mit felſichten Inſeln begraͤnzt. — Allein wir duͤrfen Zu- faͤlligkeiten bey Ruinen nicht ſo weit her ſuchen. Eine Eule, die in einem zerſtoͤrten Thurm wohnt, eine Familie von Kraͤhen, die ſich zwiſchen altem Gemaͤuer haͤuslich niedergelaſſen hat, eine kleine Huͤrde fuͤr Schafe ſind keine ſeltene Erſcheinung bey Ruinen; ſie verſtaͤrkt den Begriff von dem Oeden eines Orts, den der Menſch ſchon lange verlaſſen hat. Aber wo auch ſolche Zufaͤlligkeiten fehlen, da wird doch eine Verwilderung in Gras, Moos, Epheu und andere rankende Gewaͤchſe, eine Unter- brechung mit dickem Geſtraͤuch, eine Verſchließung mit ungeſtalten Baͤumen das Na- tuͤrliche der Ruinen vermehren koͤnnen. 4. Home *) Reiſen in Kleinaſien, 43ſtes Kap. III Band. P

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 3. Leipzig, 1780, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst3_1780/117>, abgerufen am 27.04.2024.