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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 2. Düsseldorf, 1839.

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Schwestern, hob die älteste der Ziegen an; uns
dieses kleinen verlassenen Wesens anzunehmen er-
fordert unsere Ziegenpflicht; um so mehr, da es
ein Opfer für eines unserer Kinder geworden ist.
Bringen wir denn es vor Allem unter Obdach,
und späterhin wollen wir überlegen, was von uns
für ihn geschehen kann!

Die Heerde setzte sich in Bewegung, die Müt-
ter voran, die Zicklein folgend. Die Mütter stießen
mich mit ihren Köpfen vorwärts; ich weinte und
schrie, daß ich erst meine Janitscharencadettenuni-
form wieder anziehen wolle, denn die classische
Nacktheit beginne mir frostig zu werden, davon
aber wollten die Ziegen nichts wissen, sondern hielten
es für eine neue Fieberphantasie, daß ich in jene
kranken Hüllen kriechen wolle. Ich mußte mich daher
fügen, klammerte mich zwischen zweien der Gesetztesten
mit den Händen an deren Zottelpelzen an, und
konnte so nothdürftig mit der Heerde mich fortbewegen.

An Abgründen vorbei, auf rauhen Pfaden, über
welche meine thierische Gesellschaft sicher ging, ge-
langten wir zu einer großen Felsenhöhle, dem von
der Natur gebildeten Stalle dieser wilden Ziegen.
Räumlich und wohnlich war die Höhle, ein warmer

Immermann's Münchhausen. 2. Th. 9

Schweſtern, hob die älteſte der Ziegen an; uns
dieſes kleinen verlaſſenen Weſens anzunehmen er-
fordert unſere Ziegenpflicht; um ſo mehr, da es
ein Opfer für eines unſerer Kinder geworden iſt.
Bringen wir denn es vor Allem unter Obdach,
und ſpäterhin wollen wir überlegen, was von uns
für ihn geſchehen kann!

Die Heerde ſetzte ſich in Bewegung, die Müt-
ter voran, die Zicklein folgend. Die Mütter ſtießen
mich mit ihren Köpfen vorwärts; ich weinte und
ſchrie, daß ich erſt meine Janitſcharencadettenuni-
form wieder anziehen wolle, denn die claſſiſche
Nacktheit beginne mir froſtig zu werden, davon
aber wollten die Ziegen nichts wiſſen, ſondern hielten
es für eine neue Fieberphantaſie, daß ich in jene
kranken Hüllen kriechen wolle. Ich mußte mich daher
fügen, klammerte mich zwiſchen zweien der Geſetzteſten
mit den Händen an deren Zottelpelzen an, und
konnte ſo nothdürftig mit der Heerde mich fortbewegen.

An Abgründen vorbei, auf rauhen Pfaden, über
welche meine thieriſche Geſellſchaft ſicher ging, ge-
langten wir zu einer großen Felſenhöhle, dem von
der Natur gebildeten Stalle dieſer wilden Ziegen.
Räumlich und wohnlich war die Höhle, ein warmer

Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 9
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[129/0147] Schweſtern, hob die älteſte der Ziegen an; uns dieſes kleinen verlaſſenen Weſens anzunehmen er- fordert unſere Ziegenpflicht; um ſo mehr, da es ein Opfer für eines unſerer Kinder geworden iſt. Bringen wir denn es vor Allem unter Obdach, und ſpäterhin wollen wir überlegen, was von uns für ihn geſchehen kann! Die Heerde ſetzte ſich in Bewegung, die Müt- ter voran, die Zicklein folgend. Die Mütter ſtießen mich mit ihren Köpfen vorwärts; ich weinte und ſchrie, daß ich erſt meine Janitſcharencadettenuni- form wieder anziehen wolle, denn die claſſiſche Nacktheit beginne mir froſtig zu werden, davon aber wollten die Ziegen nichts wiſſen, ſondern hielten es für eine neue Fieberphantaſie, daß ich in jene kranken Hüllen kriechen wolle. Ich mußte mich daher fügen, klammerte mich zwiſchen zweien der Geſetzteſten mit den Händen an deren Zottelpelzen an, und konnte ſo nothdürftig mit der Heerde mich fortbewegen. An Abgründen vorbei, auf rauhen Pfaden, über welche meine thieriſche Geſellſchaft ſicher ging, ge- langten wir zu einer großen Felſenhöhle, dem von der Natur gebildeten Stalle dieſer wilden Ziegen. Räumlich und wohnlich war die Höhle, ein warmer Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 9

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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 2. Düsseldorf, 1839, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen02_1839/147>, abgerufen am 26.04.2024.