Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
langte, zu entdecken suchen. Wenn die Erinnerung daran sich
auch im Gedächtniß des Volks verloren hat, so finden sich doch,
wie bereits im vorigen Paragraphen angegeben, im geistigen
Besitzthum der spätern Zeit, dem Recht wie der Sprache, noch
Versteinerungen aus jener frühern Zeit. Auch wir werden wie
die Sage zu den ersten Anfängen des Rechtes zurückgehen und
mit ihr gleichen Schritt halten, indem wir nämlich an die Stelle
jener vier Abstufungen in der Bildungsgeschichte des Rechts,
die sie uns vorführt, dem vorstaatlichen Treiben der Indivi-
duen, der Bildung des Staats, dem Auftreten der Religion,
der Annahme des Völkerrechts drei Prinzipe setzen werden, näm-
lich das Prinzip des subjektiven Rechts, jener ersten Stufe ent-
sprechend, das Prinzip der Familie und der Wehrverfassung,
mit seiner staatsbildenden Kraft der zweiten Stufe correspondi-
rend, und sodann das religiöse Prinzip, welches mit der dritten
zugleich jene vierte Stufe in sich schließt, indem nämlich das
Völkerrecht unter dem Schutze desselben steht.

Die Ausgangspunkte oder die Urelemente d. röm. Rechts.

Das Minimum geschichtlicher Anfänge.

IX. Weit, unendlich weit ist die Kluft, die uns mit unserer
modernen Rechtsauffassung von jenen ersten Anfängen der
Rechts- und Staatsbildung trennt, zu denen wir uns jetzt zu-
rückversetzen wollen. Nicht den Abstand der Zeit meine ich, ob-
gleich auch er ein gewaltiger ist, denn jene ersten Anfänge fallen
weit über Rom hinaus, sondern ich meine den Gegensatz in der
Rechtsanschauung, und dieser ist ein so bedeutender, daß es uns
Mühe kostet, uns ganz in die der Kindheitszeit des Rechts hin-
einzudenken und sie begreiflich und natürlich zu finden. Mögen
wir nie vergessen, daß das, was uns jetzt als natürlich und
vernünftig erscheint, nur das Produkt eines langen und
mühsamen Prozesses ist. Ohne die Kenntniß der Geschichte
würden wir nicht wissen, daß Rechtsanschauungen, die uns

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
langte, zu entdecken ſuchen. Wenn die Erinnerung daran ſich
auch im Gedächtniß des Volks verloren hat, ſo finden ſich doch,
wie bereits im vorigen Paragraphen angegeben, im geiſtigen
Beſitzthum der ſpätern Zeit, dem Recht wie der Sprache, noch
Verſteinerungen aus jener frühern Zeit. Auch wir werden wie
die Sage zu den erſten Anfängen des Rechtes zurückgehen und
mit ihr gleichen Schritt halten, indem wir nämlich an die Stelle
jener vier Abſtufungen in der Bildungsgeſchichte des Rechts,
die ſie uns vorführt, dem vorſtaatlichen Treiben der Indivi-
duen, der Bildung des Staats, dem Auftreten der Religion,
der Annahme des Völkerrechts drei Prinzipe ſetzen werden, näm-
lich das Prinzip des ſubjektiven Rechts, jener erſten Stufe ent-
ſprechend, das Prinzip der Familie und der Wehrverfaſſung,
mit ſeiner ſtaatsbildenden Kraft der zweiten Stufe correſpondi-
rend, und ſodann das religiöſe Prinzip, welches mit der dritten
zugleich jene vierte Stufe in ſich ſchließt, indem nämlich das
Völkerrecht unter dem Schutze deſſelben ſteht.

Die Ausgangspunkte oder die Urelemente d. röm. Rechts.

Das Minimum geſchichtlicher Anfänge.

IX. Weit, unendlich weit iſt die Kluft, die uns mit unſerer
modernen Rechtsauffaſſung von jenen erſten Anfängen der
Rechts- und Staatsbildung trennt, zu denen wir uns jetzt zu-
rückverſetzen wollen. Nicht den Abſtand der Zeit meine ich, ob-
gleich auch er ein gewaltiger iſt, denn jene erſten Anfänge fallen
weit über Rom hinaus, ſondern ich meine den Gegenſatz in der
Rechtsanſchauung, und dieſer iſt ein ſo bedeutender, daß es uns
Mühe koſtet, uns ganz in die der Kindheitszeit des Rechts hin-
einzudenken und ſie begreiflich und natürlich zu finden. Mögen
wir nie vergeſſen, daß das, was uns jetzt als natürlich und
vernünftig erſcheint, nur das Produkt eines langen und
mühſamen Prozeſſes iſt. Ohne die Kenntniß der Geſchichte
würden wir nicht wiſſen, daß Rechtsanſchauungen, die uns

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0116" n="98"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes Buch &#x2014; Ausgangspunkte des römi&#x017F;chen Rechts.</fw><lb/>
langte, zu entdecken &#x017F;uchen. Wenn die Erinnerung daran &#x017F;ich<lb/>
auch im Gedächtniß des Volks verloren hat, &#x017F;o finden &#x017F;ich doch,<lb/>
wie bereits im vorigen Paragraphen angegeben, im gei&#x017F;tigen<lb/>
Be&#x017F;itzthum der &#x017F;pätern Zeit, dem Recht wie der Sprache, noch<lb/>
Ver&#x017F;teinerungen aus jener frühern Zeit. Auch wir werden wie<lb/>
die Sage zu den er&#x017F;ten Anfängen des Rechtes zurückgehen und<lb/>
mit ihr gleichen Schritt halten, indem wir nämlich an die Stelle<lb/>
jener vier Ab&#x017F;tufungen in der Bildungsge&#x017F;chichte des Rechts,<lb/>
die &#x017F;ie uns vorführt, dem vor&#x017F;taatlichen Treiben der Indivi-<lb/>
duen, der Bildung des Staats, dem Auftreten der Religion,<lb/>
der Annahme des Völkerrechts drei Prinzipe &#x017F;etzen werden, näm-<lb/>
lich das Prinzip des &#x017F;ubjektiven Rechts, jener er&#x017F;ten Stufe ent-<lb/>
&#x017F;prechend, das Prinzip der Familie und der Wehrverfa&#x017F;&#x017F;ung,<lb/>
mit &#x017F;einer &#x017F;taatsbildenden Kraft der zweiten Stufe corre&#x017F;pondi-<lb/>
rend, und &#x017F;odann das religiö&#x017F;e Prinzip, welches mit der dritten<lb/>
zugleich jene vierte Stufe in &#x017F;ich &#x017F;chließt, indem nämlich das<lb/>
Völkerrecht unter dem Schutze de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;teht.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Die Ausgangspunkte oder die Urelemente d. röm. Rechts.</hi> </head><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b">Das Minimum ge&#x017F;chichtlicher Anfänge.</hi> </head><lb/>
              <p><hi rendition="#aq">IX.</hi> Weit, unendlich weit i&#x017F;t die Kluft, die uns mit un&#x017F;erer<lb/>
modernen Rechtsauffa&#x017F;&#x017F;ung von jenen er&#x017F;ten Anfängen der<lb/>
Rechts- und Staatsbildung trennt, zu denen wir uns jetzt zu-<lb/>
rückver&#x017F;etzen wollen. Nicht den Ab&#x017F;tand der Zeit meine ich, ob-<lb/>
gleich auch er ein gewaltiger i&#x017F;t, denn jene er&#x017F;ten Anfänge fallen<lb/>
weit über Rom hinaus, &#x017F;ondern ich meine den Gegen&#x017F;atz in der<lb/>
Rechtsan&#x017F;chauung, und die&#x017F;er i&#x017F;t ein &#x017F;o bedeutender, daß es uns<lb/>
Mühe ko&#x017F;tet, uns ganz in die der Kindheitszeit des Rechts hin-<lb/>
einzudenken und &#x017F;ie begreiflich und natürlich zu finden. Mögen<lb/>
wir nie verge&#x017F;&#x017F;en, daß das, was uns jetzt als <hi rendition="#g">natürlich</hi> und<lb/><hi rendition="#g">vernünftig</hi> er&#x017F;cheint, nur das Produkt eines langen und<lb/>
müh&#x017F;amen Proze&#x017F;&#x017F;es i&#x017F;t. Ohne die Kenntniß der Ge&#x017F;chichte<lb/>
würden wir nicht wi&#x017F;&#x017F;en, daß Rechtsan&#x017F;chauungen, die uns<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0116] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. langte, zu entdecken ſuchen. Wenn die Erinnerung daran ſich auch im Gedächtniß des Volks verloren hat, ſo finden ſich doch, wie bereits im vorigen Paragraphen angegeben, im geiſtigen Beſitzthum der ſpätern Zeit, dem Recht wie der Sprache, noch Verſteinerungen aus jener frühern Zeit. Auch wir werden wie die Sage zu den erſten Anfängen des Rechtes zurückgehen und mit ihr gleichen Schritt halten, indem wir nämlich an die Stelle jener vier Abſtufungen in der Bildungsgeſchichte des Rechts, die ſie uns vorführt, dem vorſtaatlichen Treiben der Indivi- duen, der Bildung des Staats, dem Auftreten der Religion, der Annahme des Völkerrechts drei Prinzipe ſetzen werden, näm- lich das Prinzip des ſubjektiven Rechts, jener erſten Stufe ent- ſprechend, das Prinzip der Familie und der Wehrverfaſſung, mit ſeiner ſtaatsbildenden Kraft der zweiten Stufe correſpondi- rend, und ſodann das religiöſe Prinzip, welches mit der dritten zugleich jene vierte Stufe in ſich ſchließt, indem nämlich das Völkerrecht unter dem Schutze deſſelben ſteht. Die Ausgangspunkte oder die Urelemente d. röm. Rechts. Das Minimum geſchichtlicher Anfänge. IX. Weit, unendlich weit iſt die Kluft, die uns mit unſerer modernen Rechtsauffaſſung von jenen erſten Anfängen der Rechts- und Staatsbildung trennt, zu denen wir uns jetzt zu- rückverſetzen wollen. Nicht den Abſtand der Zeit meine ich, ob- gleich auch er ein gewaltiger iſt, denn jene erſten Anfänge fallen weit über Rom hinaus, ſondern ich meine den Gegenſatz in der Rechtsanſchauung, und dieſer iſt ein ſo bedeutender, daß es uns Mühe koſtet, uns ganz in die der Kindheitszeit des Rechts hin- einzudenken und ſie begreiflich und natürlich zu finden. Mögen wir nie vergeſſen, daß das, was uns jetzt als natürlich und vernünftig erſcheint, nur das Produkt eines langen und mühſamen Prozeſſes iſt. Ohne die Kenntniß der Geſchichte würden wir nicht wiſſen, daß Rechtsanſchauungen, die uns

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/116
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/116>, abgerufen am 19.03.2024.