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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Gleichartige Entwicklung der einzelnen Institute. §. 5.

Ist es denn wahr, daß die einzelnen Institute sich nicht
gleichmäßig entwickeln? Wäre es möglich, daß das eine Insti-
tut diesem, das andere jenem Gedanken diente, oder, wenn die-
selben Gedanken sich auch bei allen Instituten wiederholten, daß
sie bei diesem in dieser, bei jenem in gerade entgegengesetzter
Reihenfolge aufträten? Dann würde freilich von einer Geschichte
des Rechts keine Rede sein können, denn wo jeder einzelne
Theil sich selbständig bewegt, gibt es kein Ganzes, keine
Einheit.

Damit also von einer Geschichte des Rechts geredet werden
könne, wird eine gewisse Gleichmäßigkeit und Gleichzeitigkeit
in der Bewegung der einzelnen Institute nothwendig vorausge-
setzt. Diese Voraussetzung ist in der That vorhanden, es kömmt
aber nur darauf an, sich durch den Schein des Gegentheils
nicht irre machen zu lassen. Wenn man sie nicht aufzufinden
vermag, so liegt dies nur darin, daß man sie selbst zu mecha-
nisch nimmt, nicht die innere Gleichheit der treibenden Kräfte,
sondern die äußere der Erscheinungsform ins Auge faßt, die
Gleichzeitigkeit aber nach einem für das Recht zu engen Zeitmaß
bestimmt.

Betrachten wir beide Punkte etwas näher.

1. Gleichartigkeit der historischen Bewegung.

Niemand wird Bedenken tragen von einer Erkrankung oder
totalen Umgestaltung eines Organismus zu sprechen, ungeachtet
dieselbe an einzelnen unedlen Theilen nicht hervortritt. Wenn
wir nun im Recht von einer totalen Neubildung seines Organis-
mus sprechen, so wird kein Verständiger die Anforderung an uns
stellen, daß wir dieselbe an jedem Atom desselben nachweisen sollen.
Die Grundgedanken, die jene Neubildung hervorgerufen haben,
werden sich in manchen Partikeln des Rechts nicht äußern kön-
nen
, indem letztere auf sie gar nicht reagiren.

An dieser Beobachtung nun, daß nicht an jedem einzel-

Gleichartige Entwicklung der einzelnen Inſtitute. §. 5.

Iſt es denn wahr, daß die einzelnen Inſtitute ſich nicht
gleichmäßig entwickeln? Wäre es möglich, daß das eine Inſti-
tut dieſem, das andere jenem Gedanken diente, oder, wenn die-
ſelben Gedanken ſich auch bei allen Inſtituten wiederholten, daß
ſie bei dieſem in dieſer, bei jenem in gerade entgegengeſetzter
Reihenfolge aufträten? Dann würde freilich von einer Geſchichte
des Rechts keine Rede ſein können, denn wo jeder einzelne
Theil ſich ſelbſtändig bewegt, gibt es kein Ganzes, keine
Einheit.

Damit alſo von einer Geſchichte des Rechts geredet werden
könne, wird eine gewiſſe Gleichmäßigkeit und Gleichzeitigkeit
in der Bewegung der einzelnen Inſtitute nothwendig vorausge-
ſetzt. Dieſe Vorausſetzung iſt in der That vorhanden, es kömmt
aber nur darauf an, ſich durch den Schein des Gegentheils
nicht irre machen zu laſſen. Wenn man ſie nicht aufzufinden
vermag, ſo liegt dies nur darin, daß man ſie ſelbſt zu mecha-
niſch nimmt, nicht die innere Gleichheit der treibenden Kräfte,
ſondern die äußere der Erſcheinungsform ins Auge faßt, die
Gleichzeitigkeit aber nach einem für das Recht zu engen Zeitmaß
beſtimmt.

Betrachten wir beide Punkte etwas näher.

1. Gleichartigkeit der hiſtoriſchen Bewegung.

Niemand wird Bedenken tragen von einer Erkrankung oder
totalen Umgeſtaltung eines Organismus zu ſprechen, ungeachtet
dieſelbe an einzelnen unedlen Theilen nicht hervortritt. Wenn
wir nun im Recht von einer totalen Neubildung ſeines Organis-
mus ſprechen, ſo wird kein Verſtändiger die Anforderung an uns
ſtellen, daß wir dieſelbe an jedem Atom deſſelben nachweiſen ſollen.
Die Grundgedanken, die jene Neubildung hervorgerufen haben,
werden ſich in manchen Partikeln des Rechts nicht äußern kön-
nen
, indem letztere auf ſie gar nicht reagiren.

An dieſer Beobachtung nun, daß nicht an jedem einzel-

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[57/0075] Gleichartige Entwicklung der einzelnen Inſtitute. §. 5. Iſt es denn wahr, daß die einzelnen Inſtitute ſich nicht gleichmäßig entwickeln? Wäre es möglich, daß das eine Inſti- tut dieſem, das andere jenem Gedanken diente, oder, wenn die- ſelben Gedanken ſich auch bei allen Inſtituten wiederholten, daß ſie bei dieſem in dieſer, bei jenem in gerade entgegengeſetzter Reihenfolge aufträten? Dann würde freilich von einer Geſchichte des Rechts keine Rede ſein können, denn wo jeder einzelne Theil ſich ſelbſtändig bewegt, gibt es kein Ganzes, keine Einheit. Damit alſo von einer Geſchichte des Rechts geredet werden könne, wird eine gewiſſe Gleichmäßigkeit und Gleichzeitigkeit in der Bewegung der einzelnen Inſtitute nothwendig vorausge- ſetzt. Dieſe Vorausſetzung iſt in der That vorhanden, es kömmt aber nur darauf an, ſich durch den Schein des Gegentheils nicht irre machen zu laſſen. Wenn man ſie nicht aufzufinden vermag, ſo liegt dies nur darin, daß man ſie ſelbſt zu mecha- niſch nimmt, nicht die innere Gleichheit der treibenden Kräfte, ſondern die äußere der Erſcheinungsform ins Auge faßt, die Gleichzeitigkeit aber nach einem für das Recht zu engen Zeitmaß beſtimmt. Betrachten wir beide Punkte etwas näher. 1. Gleichartigkeit der hiſtoriſchen Bewegung. Niemand wird Bedenken tragen von einer Erkrankung oder totalen Umgeſtaltung eines Organismus zu ſprechen, ungeachtet dieſelbe an einzelnen unedlen Theilen nicht hervortritt. Wenn wir nun im Recht von einer totalen Neubildung ſeines Organis- mus ſprechen, ſo wird kein Verſtändiger die Anforderung an uns ſtellen, daß wir dieſelbe an jedem Atom deſſelben nachweiſen ſollen. Die Grundgedanken, die jene Neubildung hervorgerufen haben, werden ſich in manchen Partikeln des Rechts nicht äußern kön- nen, indem letztere auf ſie gar nicht reagiren. An dieſer Beobachtung nun, daß nicht an jedem einzel-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/75>, abgerufen am 19.03.2024.