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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Heinrich Stillings Jünglingsjahre.


Vater Stilling war zu den ruhigen Wohnungen seiner
Voreltern hingegangen, und in seinem Hause ruhte alles in
trauriger Todesstille. Seit mehr als hundert Jahren hatte
eine jede Holzart, ein jedes Milchfaß, und jedes andere Haus-
geräthe seinen bestimmten Ort, der vom langen Gebrauch glatt
und polirt war. Ein jeder Nachbar und Freund, aus der
Nähe und Ferne, fand immer alles in gewohnter Ordnung:
und das macht vertraulich. -- Man trat in die Hausthür,
und war daheim. -- Aber nun hing alles öd und still; Ge-
sang und Freude schwiegen, und am Tisch blieb seine Stelle
leer; Niemand getraute sich, sich hinzusetzen, bis sie Hein-
rich
endlich einnahm, aber er füllte sie nur halb aus.

Margarethe trauerte indessen still und ohne Klagen;
Heinrich aber redete viel mit ihr von seinem Großvater. Er
dachte sich den Himmel wie eine herrliche Gegend von Wäldern,
Wiesen und Feldern, wie sie im schönsten Mai grünen und blü-
hen, wenn der Südwind darüber her fächelt, und die Sonne
jedem Geschöpfe Leben und Gedeihen einflößt. Dann sah er
Vater Stilling mit hellem Glanz ums Haupt einhertreten,
und ein silberweiß Gewand um ihn herabfließen.

Auf diese Vorstellung bezogen sich alle seine Reden. Eins-
mals fragte ihn Margarethe: Was meinst du, Heinrich!
was dein Großvater jetzt machen wird? Er antwortete: er
wird nach dem Orion, nach dem Sirius, dem Wagen und dem
Siebengestirn reisen und alles wohl besehen, und dann wird er
sich erst recht verwundern, und sagen, wie er so oft gesagt hat:
O welch ein wunderbarer Gott! -- Dazu hab' ich aber keine
Lust, erwiederte Margarethe; was werd' ich denn da ma-
chen? Heinrich versetzte: so wie es Marie machte, die
zu den Füßen Jesus saß. Mit dergleichen Unterredungen


Heinrich Stillings Jünglingsjahre.


Vater Stilling war zu den ruhigen Wohnungen ſeiner
Voreltern hingegangen, und in ſeinem Hauſe ruhte alles in
trauriger Todesſtille. Seit mehr als hundert Jahren hatte
eine jede Holzart, ein jedes Milchfaß, und jedes andere Haus-
geraͤthe ſeinen beſtimmten Ort, der vom langen Gebrauch glatt
und polirt war. Ein jeder Nachbar und Freund, aus der
Naͤhe und Ferne, fand immer alles in gewohnter Ordnung:
und das macht vertraulich. — Man trat in die Hausthuͤr,
und war daheim. — Aber nun hing alles oͤd und ſtill; Ge-
ſang und Freude ſchwiegen, und am Tiſch blieb ſeine Stelle
leer; Niemand getraute ſich, ſich hinzuſetzen, bis ſie Hein-
rich
endlich einnahm, aber er fuͤllte ſie nur halb aus.

Margarethe trauerte indeſſen ſtill und ohne Klagen;
Heinrich aber redete viel mit ihr von ſeinem Großvater. Er
dachte ſich den Himmel wie eine herrliche Gegend von Waͤldern,
Wieſen und Feldern, wie ſie im ſchoͤnſten Mai gruͤnen und bluͤ-
hen, wenn der Suͤdwind daruͤber her faͤchelt, und die Sonne
jedem Geſchoͤpfe Leben und Gedeihen einfloͤßt. Dann ſah er
Vater Stilling mit hellem Glanz ums Haupt einhertreten,
und ein ſilberweiß Gewand um ihn herabfließen.

Auf dieſe Vorſtellung bezogen ſich alle ſeine Reden. Eins-
mals fragte ihn Margarethe: Was meinſt du, Heinrich!
was dein Großvater jetzt machen wird? Er antwortete: er
wird nach dem Orion, nach dem Sirius, dem Wagen und dem
Siebengeſtirn reiſen und alles wohl beſehen, und dann wird er
ſich erſt recht verwundern, und ſagen, wie er ſo oft geſagt hat:
O welch ein wunderbarer Gott! — Dazu hab’ ich aber keine
Luſt, erwiederte Margarethe; was werd’ ich denn da ma-
chen? Heinrich verſetzte: ſo wie es Marie machte, die
zu den Fuͤßen Jeſus ſaß. Mit dergleichen Unterredungen

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[[101]/0109] Heinrich Stillings Jünglingsjahre. Vater Stilling war zu den ruhigen Wohnungen ſeiner Voreltern hingegangen, und in ſeinem Hauſe ruhte alles in trauriger Todesſtille. Seit mehr als hundert Jahren hatte eine jede Holzart, ein jedes Milchfaß, und jedes andere Haus- geraͤthe ſeinen beſtimmten Ort, der vom langen Gebrauch glatt und polirt war. Ein jeder Nachbar und Freund, aus der Naͤhe und Ferne, fand immer alles in gewohnter Ordnung: und das macht vertraulich. — Man trat in die Hausthuͤr, und war daheim. — Aber nun hing alles oͤd und ſtill; Ge- ſang und Freude ſchwiegen, und am Tiſch blieb ſeine Stelle leer; Niemand getraute ſich, ſich hinzuſetzen, bis ſie Hein- rich endlich einnahm, aber er fuͤllte ſie nur halb aus. Margarethe trauerte indeſſen ſtill und ohne Klagen; Heinrich aber redete viel mit ihr von ſeinem Großvater. Er dachte ſich den Himmel wie eine herrliche Gegend von Waͤldern, Wieſen und Feldern, wie ſie im ſchoͤnſten Mai gruͤnen und bluͤ- hen, wenn der Suͤdwind daruͤber her faͤchelt, und die Sonne jedem Geſchoͤpfe Leben und Gedeihen einfloͤßt. Dann ſah er Vater Stilling mit hellem Glanz ums Haupt einhertreten, und ein ſilberweiß Gewand um ihn herabfließen. Auf dieſe Vorſtellung bezogen ſich alle ſeine Reden. Eins- mals fragte ihn Margarethe: Was meinſt du, Heinrich! was dein Großvater jetzt machen wird? Er antwortete: er wird nach dem Orion, nach dem Sirius, dem Wagen und dem Siebengeſtirn reiſen und alles wohl beſehen, und dann wird er ſich erſt recht verwundern, und ſagen, wie er ſo oft geſagt hat: O welch ein wunderbarer Gott! — Dazu hab’ ich aber keine Luſt, erwiederte Margarethe; was werd’ ich denn da ma- chen? Heinrich verſetzte: ſo wie es Marie machte, die zu den Fuͤßen Jeſus ſaß. Mit dergleichen Unterredungen

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. [101]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/109>, abgerufen am 26.04.2024.