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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Erstes Buch.
Staat im modernen Sinne, dessen Maschine aber die ungestörte
Fortdauer vieler Elemente mittelalterlicher Kultur vertrug. Aus
der Reibung des nüchteren, modernen, klassisch geschulten Ver-
standes mit dieser Traumwelt ging das, wenn auch nicht einzig
gute, doch gewiss unvergleichlichste und unterhaltendste Werk
ihrer und vielleicht der ganzen neuern Dichtung hervor. Damals gab
es keine Antecamera, in der nicht ein Don Quixote lag; dieses Buch
war als Novität in den Händen der jungen Leute, welche die
"Schule von Sevilla" begründeten. Miguel Cervantes, der wie
Leonardo die Erfahrung die Mutter aller Wissenschaften nannte,
und die Geschichte für heilig erklärte, "weil sie wahrhaftig ist,
und wo die Wahrheit ist, da ist Gott"1) -- er besass in seinem
reichen Geist ein gut Stück Vulgärrationalismus, das was Schle-
gel den "prosaischen Winkel in seinem poetischen Gemüth"
nannte. Ein solcher prosaischer Winkel aber findet sich überall
in spanischer Dichtung und Kultur. Neben dem fahlen dürren
Ross der Romantik trabt der Esel praktischer Volksweisheit.
Ihr einziges Epos war nur das Tagebuch eines Indianerfeldzugs,
"die unbestochene Relation eines Augenzeugen, von der Wahr-
heit abgenommen und nach ihrem Maasse zugeschnitten"2). Ihre
wo nicht älteste, doch am meisten gelesene und gedruckte Comödie
war Celestina. Quevedo's "grosser Schelm" und die Picarosro-
mane sind auch im Detail der Trivialität nicht überbotene Vorläufer
des von den heutigen Südfranzosen aufgebrachten realistischen
Romans. Während dem grand siecle Frankreichs die Aufrich-
tung der Regeln des antiken Drama's in verschärfter Fassung
voraufging, so eröffnete Lope das Jahrhundert des spanischen
Drama's mit einer Kündigung der Kunstregeln, mit einer Kapi-
tulation des auch dort eingeführten klassischen Geschmacks vor
dem Brauch Spaniens, dem "Beifall des Pöbels", der barbarischen
Comödie, wie er selbst cynisch sagt, welche das Thun der Men-
schen und die Sitten des Jahrhunderts nachahmt3). Diese Dra-
matiker haben die alten Ideen von Ehre, Liebe und Loyalität in
spitzfindigen Verwickelungen und in schimmernder Sprache ver-
herrlicht; aber der Dichter des Jahrhunderts und des Hofs, den wir
in diesem Buch kennen lernen werden, "ein Dichter wenn es je
einen gegeben hat", Calderon, enthält nicht nur den Geist seiner

1) D. Quixote I, 21. II, 3.
2) Ercilla nennt sein Epos selbst relacion sin corromper, sacada de la verdad,
cortada a su medida. La Araucana I, 3.
3) v. Schack, Geschichte der dramatischen Kunst II, 215 ff.

Erstes Buch.
Staat im modernen Sinne, dessen Maschine aber die ungestörte
Fortdauer vieler Elemente mittelalterlicher Kultur vertrug. Aus
der Reibung des nüchteren, modernen, klassisch geschulten Ver-
standes mit dieser Traumwelt ging das, wenn auch nicht einzig
gute, doch gewiss unvergleichlichste und unterhaltendste Werk
ihrer und vielleicht der ganzen neuern Dichtung hervor. Damals gab
es keine Antecamera, in der nicht ein Don Quixote lag; dieses Buch
war als Novität in den Händen der jungen Leute, welche die
„Schule von Sevilla“ begründeten. Miguel Cervantes, der wie
Leonardo die Erfahrung die Mutter aller Wissenschaften nannte,
und die Geschichte für heilig erklärte, „weil sie wahrhaftig ist,
und wo die Wahrheit ist, da ist Gott“1) — er besass in seinem
reichen Geist ein gut Stück Vulgärrationalismus, das was Schle-
gel den „prosaischen Winkel in seinem poetischen Gemüth“
nannte. Ein solcher prosaischer Winkel aber findet sich überall
in spanischer Dichtung und Kultur. Neben dem fahlen dürren
Ross der Romantik trabt der Esel praktischer Volksweisheit.
Ihr einziges Epos war nur das Tagebuch eines Indianerfeldzugs,
„die unbestochene Relation eines Augenzeugen, von der Wahr-
heit abgenommen und nach ihrem Maasse zugeschnitten“2). Ihre
wo nicht älteste, doch am meisten gelesene und gedruckte Comödie
war Celestina. Quevedo’s „grosser Schelm“ und die Picarosro-
mane sind auch im Detail der Trivialität nicht überbotene Vorläufer
des von den heutigen Südfranzosen aufgebrachten realistischen
Romans. Während dem grand siècle Frankreichs die Aufrich-
tung der Regeln des antiken Drama’s in verschärfter Fassung
voraufging, so eröffnete Lope das Jahrhundert des spanischen
Drama’s mit einer Kündigung der Kunstregeln, mit einer Kapi-
tulation des auch dort eingeführten klassischen Geschmacks vor
dem Brauch Spaniens, dem „Beifall des Pöbels“, der barbarischen
Comödie, wie er selbst cynisch sagt, welche das Thun der Men-
schen und die Sitten des Jahrhunderts nachahmt3). Diese Dra-
matiker haben die alten Ideen von Ehre, Liebe und Loyalität in
spitzfindigen Verwickelungen und in schimmernder Sprache ver-
herrlicht; aber der Dichter des Jahrhunderts und des Hofs, den wir
in diesem Buch kennen lernen werden, „ein Dichter wenn es je
einen gegeben hat“, Calderon, enthält nicht nur den Geist seiner

1) D. Quixote I, 21. II, 3.
2) Ercilla nennt sein Epos selbst relacion sin corromper, sacada de la verdad,
cortada á su medida. La Araucana I, 3.
3) v. Schack, Geschichte der dramatischen Kunst II, 215 ff.
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[6/0026] Erstes Buch. Staat im modernen Sinne, dessen Maschine aber die ungestörte Fortdauer vieler Elemente mittelalterlicher Kultur vertrug. Aus der Reibung des nüchteren, modernen, klassisch geschulten Ver- standes mit dieser Traumwelt ging das, wenn auch nicht einzig gute, doch gewiss unvergleichlichste und unterhaltendste Werk ihrer und vielleicht der ganzen neuern Dichtung hervor. Damals gab es keine Antecamera, in der nicht ein Don Quixote lag; dieses Buch war als Novität in den Händen der jungen Leute, welche die „Schule von Sevilla“ begründeten. Miguel Cervantes, der wie Leonardo die Erfahrung die Mutter aller Wissenschaften nannte, und die Geschichte für heilig erklärte, „weil sie wahrhaftig ist, und wo die Wahrheit ist, da ist Gott“ 1) — er besass in seinem reichen Geist ein gut Stück Vulgärrationalismus, das was Schle- gel den „prosaischen Winkel in seinem poetischen Gemüth“ nannte. Ein solcher prosaischer Winkel aber findet sich überall in spanischer Dichtung und Kultur. Neben dem fahlen dürren Ross der Romantik trabt der Esel praktischer Volksweisheit. Ihr einziges Epos war nur das Tagebuch eines Indianerfeldzugs, „die unbestochene Relation eines Augenzeugen, von der Wahr- heit abgenommen und nach ihrem Maasse zugeschnitten“ 2). Ihre wo nicht älteste, doch am meisten gelesene und gedruckte Comödie war Celestina. Quevedo’s „grosser Schelm“ und die Picarosro- mane sind auch im Detail der Trivialität nicht überbotene Vorläufer des von den heutigen Südfranzosen aufgebrachten realistischen Romans. Während dem grand siècle Frankreichs die Aufrich- tung der Regeln des antiken Drama’s in verschärfter Fassung voraufging, so eröffnete Lope das Jahrhundert des spanischen Drama’s mit einer Kündigung der Kunstregeln, mit einer Kapi- tulation des auch dort eingeführten klassischen Geschmacks vor dem Brauch Spaniens, dem „Beifall des Pöbels“, der barbarischen Comödie, wie er selbst cynisch sagt, welche das Thun der Men- schen und die Sitten des Jahrhunderts nachahmt 3). Diese Dra- matiker haben die alten Ideen von Ehre, Liebe und Loyalität in spitzfindigen Verwickelungen und in schimmernder Sprache ver- herrlicht; aber der Dichter des Jahrhunderts und des Hofs, den wir in diesem Buch kennen lernen werden, „ein Dichter wenn es je einen gegeben hat“, Calderon, enthält nicht nur den Geist seiner 1) D. Quixote I, 21. II, 3. 2) Ercilla nennt sein Epos selbst relacion sin corromper, sacada de la verdad, cortada á su medida. La Araucana I, 3. 3) v. Schack, Geschichte der dramatischen Kunst II, 215 ff.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/26>, abgerufen am 26.04.2024.