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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Viertes Buch.
glitten über die Stirne, verhüllten, bis auf die Mitte der
Brust herabsinkend, wie ein schwerer schwarzer Schleier das
Auge und die rechte Seite des Gesichts. Der Eindruck dieser
halben Verschleierung ist mehr ein geahnter, gefühlter als ver-
standener, aber unwiderstehlich. Dies ist der eine, dem Künst-
ler durch einen Zufall aus dem unbekannten, unbewussten Dun-
kel der schaffenden Phantasie in den Pinsel geflossene, dämo-
nische Zug des Bildes.

Man sagt uns, dieser Zug sei nicht das Eigenthum des
Malers, sondern einem kleinen Bilde des Luis Tristan entlehnt,
das früher in der Galerie Salamanca in Vista alegre zu sehen
war; die Zeichnung dazu soll ein Pariser Sammler haben. Wenn
dieses Crucifix dem Tristan mit ebensoviel Grund zugeschrieben
worden ist, wie die Gemälde im Museum zu Madrid, so braucht
man kaum zu bedauern, es nicht gesehn zu haben. Es wird wie
in hundert ähnlichen Fällen eine kleine Kopie nach Velazquez
gewesen sein, wie sie sonst dem Publikum als Originalskizzen
aufgebunden werden. Um sie zu etwas besserm als einer Kopie
zu machen, schrieb sie Jemand dem von Velazquez gelobten
Toledaner zu. Burger bemerkt dabei, "um Velazquez in diesem
seltsamen und erhabenen Werk wiederzuerkennen, müsse man
in die Chronologie seines Talents eingeweiht sein: hier also wissen,
dass sein Christus von Tristan abstamme!" Der pariser Kritiker
wusste nicht, dass sich Velazquez nie weiter von diesem Chiaros-
curisten entfernt hat, als in unserm Bilde. Es ist sehr gediegen in
einem hellen, unübertrefflich wahren Fleischton gemalt1), der
besonders in der unteren Hälfte, mit einem ernsten, zarten
Schleier von Grau gedämpft ist.

Velazquez der besser als irgend einer zu wissen glaubte
was dazu gehört, um auch den einfachsten Gegenstand "gut zu
malen", d. h. der Natur nahe zu kommen, konnte wohl nicht im
Ernst unternehmen, ein Krucifix naturwahr, wahrscheinlich dar-
zustellen. Das lässt sich nicht erdenken. Noch weniger traute
er sich zu, den Ausdruck des sterbenden Gottes mit dem Pinsel
zu erreichen. Er vertraute, dass hier das Gefühl der Kunst ent-
gegenkommen werde, welches in dem Angedeuteten oft mehr
liest als in dem Ausgesprochenen. Daher der Schatten, die Ver-
kürzung des Antlitzes, der zufällige Schleier. Es ging ihm wie

1) Cuadro en fin de tanta verdad que no parece pintado con colores arti-
ficiales. Jose Musso y Valiente, Text zu der Coleccion litografica III.

Viertes Buch.
glitten über die Stirne, verhüllten, bis auf die Mitte der
Brust herabsinkend, wie ein schwerer schwarzer Schleier das
Auge und die rechte Seite des Gesichts. Der Eindruck dieser
halben Verschleierung ist mehr ein geahnter, gefühlter als ver-
standener, aber unwiderstehlich. Dies ist der eine, dem Künst-
ler durch einen Zufall aus dem unbekannten, unbewussten Dun-
kel der schaffenden Phantasie in den Pinsel geflossene, dämo-
nische Zug des Bildes.

Man sagt uns, dieser Zug sei nicht das Eigenthum des
Malers, sondern einem kleinen Bilde des Luis Tristan entlehnt,
das früher in der Galerie Salamanca in Vista alegre zu sehen
war; die Zeichnung dazu soll ein Pariser Sammler haben. Wenn
dieses Crucifix dem Tristan mit ebensoviel Grund zugeschrieben
worden ist, wie die Gemälde im Museum zu Madrid, so braucht
man kaum zu bedauern, es nicht gesehn zu haben. Es wird wie
in hundert ähnlichen Fällen eine kleine Kopie nach Velazquez
gewesen sein, wie sie sonst dem Publikum als Originalskizzen
aufgebunden werden. Um sie zu etwas besserm als einer Kopie
zu machen, schrieb sie Jemand dem von Velazquez gelobten
Toledaner zu. Burger bemerkt dabei, „um Velazquez in diesem
seltsamen und erhabenen Werk wiederzuerkennen, müsse man
in die Chronologie seines Talents eingeweiht sein: hier also wissen,
dass sein Christus von Tristan abstamme!“ Der pariser Kritiker
wusste nicht, dass sich Velazquez nie weiter von diesem Chiaros-
curisten entfernt hat, als in unserm Bilde. Es ist sehr gediegen in
einem hellen, unübertrefflich wahren Fleischton gemalt1), der
besonders in der unteren Hälfte, mit einem ernsten, zarten
Schleier von Grau gedämpft ist.

Velazquez der besser als irgend einer zu wissen glaubte
was dazu gehört, um auch den einfachsten Gegenstand „gut zu
malen“, d. h. der Natur nahe zu kommen, konnte wohl nicht im
Ernst unternehmen, ein Krucifix naturwahr, wahrscheinlich dar-
zustellen. Das lässt sich nicht erdenken. Noch weniger traute
er sich zu, den Ausdruck des sterbenden Gottes mit dem Pinsel
zu erreichen. Er vertraute, dass hier das Gefühl der Kunst ent-
gegenkommen werde, welches in dem Angedeuteten oft mehr
liest als in dem Ausgesprochenen. Daher der Schatten, die Ver-
kürzung des Antlitzes, der zufällige Schleier. Es ging ihm wie

1) Cuadro en fin de tanta verdad que no parece pintado con colores arti-
ficiales. José Musso y Valiente, Text zu der Coleccion litográfica III.
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[418/0446] Viertes Buch. glitten über die Stirne, verhüllten, bis auf die Mitte der Brust herabsinkend, wie ein schwerer schwarzer Schleier das Auge und die rechte Seite des Gesichts. Der Eindruck dieser halben Verschleierung ist mehr ein geahnter, gefühlter als ver- standener, aber unwiderstehlich. Dies ist der eine, dem Künst- ler durch einen Zufall aus dem unbekannten, unbewussten Dun- kel der schaffenden Phantasie in den Pinsel geflossene, dämo- nische Zug des Bildes. Man sagt uns, dieser Zug sei nicht das Eigenthum des Malers, sondern einem kleinen Bilde des Luis Tristan entlehnt, das früher in der Galerie Salamanca in Vista alegre zu sehen war; die Zeichnung dazu soll ein Pariser Sammler haben. Wenn dieses Crucifix dem Tristan mit ebensoviel Grund zugeschrieben worden ist, wie die Gemälde im Museum zu Madrid, so braucht man kaum zu bedauern, es nicht gesehn zu haben. Es wird wie in hundert ähnlichen Fällen eine kleine Kopie nach Velazquez gewesen sein, wie sie sonst dem Publikum als Originalskizzen aufgebunden werden. Um sie zu etwas besserm als einer Kopie zu machen, schrieb sie Jemand dem von Velazquez gelobten Toledaner zu. Burger bemerkt dabei, „um Velazquez in diesem seltsamen und erhabenen Werk wiederzuerkennen, müsse man in die Chronologie seines Talents eingeweiht sein: hier also wissen, dass sein Christus von Tristan abstamme!“ Der pariser Kritiker wusste nicht, dass sich Velazquez nie weiter von diesem Chiaros- curisten entfernt hat, als in unserm Bilde. Es ist sehr gediegen in einem hellen, unübertrefflich wahren Fleischton gemalt 1), der besonders in der unteren Hälfte, mit einem ernsten, zarten Schleier von Grau gedämpft ist. Velazquez der besser als irgend einer zu wissen glaubte was dazu gehört, um auch den einfachsten Gegenstand „gut zu malen“, d. h. der Natur nahe zu kommen, konnte wohl nicht im Ernst unternehmen, ein Krucifix naturwahr, wahrscheinlich dar- zustellen. Das lässt sich nicht erdenken. Noch weniger traute er sich zu, den Ausdruck des sterbenden Gottes mit dem Pinsel zu erreichen. Er vertraute, dass hier das Gefühl der Kunst ent- gegenkommen werde, welches in dem Angedeuteten oft mehr liest als in dem Ausgesprochenen. Daher der Schatten, die Ver- kürzung des Antlitzes, der zufällige Schleier. Es ging ihm wie 1) Cuadro en fin de tanta verdad que no parece pintado con colores arti- ficiales. José Musso y Valiente, Text zu der Coleccion litográfica III.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/446>, abgerufen am 26.04.2024.