Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Antinomie
Erster Widerstreit
Thesis.

Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem
Raum nach auch in Gränzen eingeschlossen.

Beweis.

Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach
keinen Anfang: so ist bis zu iedem gegebenen Zeitpuncte
eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Rei-
he auf einander folgenden Zustände der Dinge in der Welt
verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit
einer Reihe: daß sie durch successive Synthesis niemals
vollendet seyn kan. Also ist eine unendliche verflossene
Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt, eine
nothwendige Bedingung ihres Daseyns, welches zuerst
zu beweisen war.

In Ansehung des zweiten nehme man wiederum das
Gegentheil an: so wird die Welt ein unendliches gegebenes
Ganze von zugleich existirenden Dingen seyn. Nun kön-
nen wir die Grösse eines Quanti, welches nicht innerhalb
gewissen Gränzen ieder Anschauung gegeben wird,*) auf

keine
*) Wir können ein unbestimtes Quantum als ein Ganzes
anschauen, wenn es in Gränzen eingeschlossen ist, ohne
die Totalität desselben durch Messung, d. i. die successive
Syn-
Die Antinomie
Erſter Widerſtreit
Theſis.

Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und iſt dem
Raum nach auch in Graͤnzen eingeſchloſſen.

Beweis.

Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach
keinen Anfang: ſo iſt bis zu iedem gegebenen Zeitpuncte
eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Rei-
he auf einander folgenden Zuſtaͤnde der Dinge in der Welt
verfloſſen. Nun beſteht aber eben darin die Unendlichkeit
einer Reihe: daß ſie durch ſucceſſive Syntheſis niemals
vollendet ſeyn kan. Alſo iſt eine unendliche verfloſſene
Weltreihe unmoͤglich, mithin ein Anfang der Welt, eine
nothwendige Bedingung ihres Daſeyns, welches zuerſt
zu beweiſen war.

In Anſehung des zweiten nehme man wiederum das
Gegentheil an: ſo wird die Welt ein unendliches gegebenes
Ganze von zugleich exiſtirenden Dingen ſeyn. Nun koͤn-
nen wir die Groͤſſe eines Quanti, welches nicht innerhalb
gewiſſen Graͤnzen ieder Anſchauung gegeben wird,*) auf

keine
*) Wir koͤnnen ein unbeſtimtes Quantum als ein Ganzes
anſchauen, wenn es in Graͤnzen eingeſchloſſen iſt, ohne
die Totalitaͤt deſſelben durch Meſſung, d. i. die ſucceſſive
Syn-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <pb facs="#f0456" n="[426]"/>
                    <div xml:id="f0456" next="#f0458" n="8">
                      <head xml:id="f0456h">Die Antinomie</head><lb/>
                      <div n="9">
                        <head xml:id="f04561h">Er&#x017F;ter Wider&#x017F;treit</head><lb/>
                        <div n="10">
                          <head> <hi rendition="#b">The&#x017F;is.</hi> </head><lb/>
                          <p>Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und i&#x017F;t dem<lb/>
Raum nach auch in Gra&#x0364;nzen einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en.</p>
                        </div><lb/>
                        <div n="10">
                          <head> <hi rendition="#b">Beweis.</hi> </head><lb/>
                          <p>Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach<lb/>
keinen Anfang: &#x017F;o i&#x017F;t bis zu iedem gegebenen Zeitpuncte<lb/>
eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Rei-<lb/>
he auf einander folgenden Zu&#x017F;ta&#x0364;nde der Dinge in der Welt<lb/>
verflo&#x017F;&#x017F;en. Nun be&#x017F;teht aber eben darin die Unendlichkeit<lb/>
einer Reihe: daß &#x017F;ie durch &#x017F;ucce&#x017F;&#x017F;ive Synthe&#x017F;is niemals<lb/>
vollendet &#x017F;eyn kan. Al&#x017F;o i&#x017F;t eine unendliche verflo&#x017F;&#x017F;ene<lb/>
Weltreihe unmo&#x0364;glich, mithin ein Anfang der Welt, eine<lb/>
nothwendige Bedingung ihres Da&#x017F;eyns, welches zuer&#x017F;t<lb/>
zu bewei&#x017F;en war.</p><lb/>
                          <p xml:id="f0456p">In An&#x017F;ehung des zweiten nehme man wiederum das<lb/>
Gegentheil an: &#x017F;o wird die Welt ein unendliches gegebenes<lb/>
Ganze von zugleich exi&#x017F;tirenden Dingen &#x017F;eyn. Nun ko&#x0364;n-<lb/>
nen wir die Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e eines Quanti, welches nicht innerhalb<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;en Gra&#x0364;nzen ieder An&#x017F;chauung gegeben wird,<note xml:id="note01part01" next="#note01part02" place="foot" n="*)">Wir ko&#x0364;nnen ein unbe&#x017F;timtes Quantum als ein Ganzes<lb/>
an&#x017F;chauen, wenn es in Gra&#x0364;nzen einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, ohne<lb/>
die Totalita&#x0364;t de&#x017F;&#x017F;elben durch Me&#x017F;&#x017F;ung, d. i. die &#x017F;ucce&#x017F;&#x017F;ive<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Syn-</fw></note> auf<lb/></p>
                        </div>
                      </div>
                    </div>
                    <fw place="bottom" type="catch">keine</fw><lb/>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[426]/0456] Die Antinomie Erſter Widerſtreit Theſis. Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und iſt dem Raum nach auch in Graͤnzen eingeſchloſſen. Beweis. Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: ſo iſt bis zu iedem gegebenen Zeitpuncte eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Rei- he auf einander folgenden Zuſtaͤnde der Dinge in der Welt verfloſſen. Nun beſteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe: daß ſie durch ſucceſſive Syntheſis niemals vollendet ſeyn kan. Alſo iſt eine unendliche verfloſſene Weltreihe unmoͤglich, mithin ein Anfang der Welt, eine nothwendige Bedingung ihres Daſeyns, welches zuerſt zu beweiſen war. In Anſehung des zweiten nehme man wiederum das Gegentheil an: ſo wird die Welt ein unendliches gegebenes Ganze von zugleich exiſtirenden Dingen ſeyn. Nun koͤn- nen wir die Groͤſſe eines Quanti, welches nicht innerhalb gewiſſen Graͤnzen ieder Anſchauung gegeben wird, *) auf keine *) Wir koͤnnen ein unbeſtimtes Quantum als ein Ganzes anſchauen, wenn es in Graͤnzen eingeſchloſſen iſt, ohne die Totalitaͤt deſſelben durch Meſſung, d. i. die ſucceſſive Syn-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/456
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. [426]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/456>, abgerufen am 26.04.2024.