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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Anmerkung zur ersten Antinomie.
I. zur Thesis

Ich habe bey diesen einander widerstreitenden Argu-
menten nicht Blendwercke gesucht, um etwa (wie man
sagt) einen Advocatenbeweis zu führen, welcher sich der
Unbehutsamkeit des Gegners zu seinem Vortheile bedient,
und seine Berufung auf ein mißverstanden Gesetz gerne
gelten läßt, um seine eigene unrechtmässige Ansprüche auf
die Widerlegung desselben zu bauen. Jeder dieser Bewei-
se ist aus der Sache Natur gezogen und der Vortheil bey
Seite gesezt worden, den uns die Fehlschlüsse der Dog-
matiker von beiden Theilen geben könten.

Ich hätte die Thesis auch dadurch dem Scheine nach
beweisen können: daß ich von der Unendlichkeit einer gege-
benen Grösse, nach der Gewohnheit der Dogmatiker, ei-
nen fehlerhaften Begriff voran geschikt hätte. Unend-
lich ist eine Grösse, über die keine grössere (d. i. über die
darin enthaltene Menge einer gegebenen Einheit) möglich
ist. Nun ist keine Menge die grösseste, weil noch immer
eine, oder mehrere Einheiten hinzugethan werden können.
Also ist eine unendliche gegebene Grösse, mithin auch eine,
(der verflossenen Reihe sowol, als der Ausdehnung nach)
unendliche Welt unmöglich: sie ist also beiderseitig begränzt.
So hätte ich meinen Beweis führen können: allein dieser
Begriff stimt nicht mit dem, was man unter einem unend-
lichen Ganzen versteht. Es wird dadurch nicht vorgestellt,
wie groß es sey, mithin ist sein Begriff auch nicht der
Begriff eines Maximum, sondern es wird dadurch nur

sein
Anmerkung zur erſten Antinomie.
I. zur Theſis

Ich habe bey dieſen einander widerſtreitenden Argu-
menten nicht Blendwercke geſucht, um etwa (wie man
ſagt) einen Advocatenbeweis zu fuͤhren, welcher ſich der
Unbehutſamkeit des Gegners zu ſeinem Vortheile bedient,
und ſeine Berufung auf ein mißverſtanden Geſetz gerne
gelten laͤßt, um ſeine eigene unrechtmaͤſſige Anſpruͤche auf
die Widerlegung deſſelben zu bauen. Jeder dieſer Bewei-
ſe iſt aus der Sache Natur gezogen und der Vortheil bey
Seite geſezt worden, den uns die Fehlſchluͤſſe der Dog-
matiker von beiden Theilen geben koͤnten.

Ich haͤtte die Theſis auch dadurch dem Scheine nach
beweiſen koͤnnen: daß ich von der Unendlichkeit einer gege-
benen Groͤſſe, nach der Gewohnheit der Dogmatiker, ei-
nen fehlerhaften Begriff voran geſchikt haͤtte. Unend-
lich iſt eine Groͤſſe, uͤber die keine groͤſſere (d. i. uͤber die
darin enthaltene Menge einer gegebenen Einheit) moͤglich
iſt. Nun iſt keine Menge die groͤſſeſte, weil noch immer
eine, oder mehrere Einheiten hinzugethan werden koͤnnen.
Alſo iſt eine unendliche gegebene Groͤſſe, mithin auch eine,
(der verfloſſenen Reihe ſowol, als der Ausdehnung nach)
unendliche Welt unmoͤglich: ſie iſt alſo beiderſeitig begraͤnzt.
So haͤtte ich meinen Beweis fuͤhren koͤnnen: allein dieſer
Begriff ſtimt nicht mit dem, was man unter einem unend-
lichen Ganzen verſteht. Es wird dadurch nicht vorgeſtellt,
wie groß es ſey, mithin iſt ſein Begriff auch nicht der
Begriff eines Maximum, ſondern es wird dadurch nur

ſein
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[[430]/0460] Anmerkung zur erſten Antinomie. I. zur Theſis Ich habe bey dieſen einander widerſtreitenden Argu- menten nicht Blendwercke geſucht, um etwa (wie man ſagt) einen Advocatenbeweis zu fuͤhren, welcher ſich der Unbehutſamkeit des Gegners zu ſeinem Vortheile bedient, und ſeine Berufung auf ein mißverſtanden Geſetz gerne gelten laͤßt, um ſeine eigene unrechtmaͤſſige Anſpruͤche auf die Widerlegung deſſelben zu bauen. Jeder dieſer Bewei- ſe iſt aus der Sache Natur gezogen und der Vortheil bey Seite geſezt worden, den uns die Fehlſchluͤſſe der Dog- matiker von beiden Theilen geben koͤnten. Ich haͤtte die Theſis auch dadurch dem Scheine nach beweiſen koͤnnen: daß ich von der Unendlichkeit einer gege- benen Groͤſſe, nach der Gewohnheit der Dogmatiker, ei- nen fehlerhaften Begriff voran geſchikt haͤtte. Unend- lich iſt eine Groͤſſe, uͤber die keine groͤſſere (d. i. uͤber die darin enthaltene Menge einer gegebenen Einheit) moͤglich iſt. Nun iſt keine Menge die groͤſſeſte, weil noch immer eine, oder mehrere Einheiten hinzugethan werden koͤnnen. Alſo iſt eine unendliche gegebene Groͤſſe, mithin auch eine, (der verfloſſenen Reihe ſowol, als der Ausdehnung nach) unendliche Welt unmoͤglich: ſie iſt alſo beiderſeitig begraͤnzt. So haͤtte ich meinen Beweis fuͤhren koͤnnen: allein dieſer Begriff ſtimt nicht mit dem, was man unter einem unend- lichen Ganzen verſteht. Es wird dadurch nicht vorgeſtellt, wie groß es ſey, mithin iſt ſein Begriff auch nicht der Begriff eines Maximum, ſondern es wird dadurch nur ſein

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. [430]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/460>, abgerufen am 27.04.2024.