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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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VII. Absch. Critik aller speculativen Theologie.
Des dritten Hauptstücks
Siebenter Abschnitt.
Critik aller Theologie aus speculativen Principien
der Vernunft.

Wenn ich unter Theologie die Erkentniß des Urwesens
verstehe, so ist sie entweder die aus blosser Ver-
nunft (theologia rationalis) oder aus Offenbahrung (reve-
lata)
. Die erstere denkt sich nun ihren Gegenstand entwe-
der blos durch reine Vernunft, vermittelst lanter trans-
scendentaler Begriffe, (ens originarium, realissimum,
ens entium
und heißt die transscendentale Theologie,
oder durch einen Begriff, den sie aus der Ratur (unserer
Seele) entlehnt, als die höchste Intelligenz und müßte die
natürliche Theologie heissen. Der, so allein eine trans-
scendentale Theologie einräumt, wird Deist, der, so auch
eine natürliche Theologie annimt, Theist genant. Der
erstere giebt zu, daß wir allenfals das Daseyn eines Ur-
wesens durch blosse Vernunft erkennen können, aber unser
Begriff von ihm blos transscendental sey, nemlich nur
als von einem Wesen, das alle Realität hat, die man
aber nicht näher bestimmen kan. Der zweite behauptet,
die Vernunft sey im Stande, den Gegenstand nach der Ana-
logie mit der Natur näher zu bestimmen, nemlich: als
ein Wesen, das durch Verstand und Freiheit den Urgrund
aller anderen Dinge in sich enthalte. Jener stellet sich also
unter demselben blos eine Weltursache, (ob durch die

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VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
Des dritten Hauptſtuͤcks
Siebenter Abſchnitt.
Critik aller Theologie aus ſpeculativen Principien
der Vernunft.

Wenn ich unter Theologie die Erkentniß des Urweſens
verſtehe, ſo iſt ſie entweder die aus bloſſer Ver-
nunft (theologia rationalis) oder aus Offenbahrung (reve-
lata)
. Die erſtere denkt ſich nun ihren Gegenſtand entwe-
der blos durch reine Vernunft, vermittelſt lanter trans-
ſcendentaler Begriffe, (ens originarium, realiſſimum,
ens entium
und heißt die transſcendentale Theologie,
oder durch einen Begriff, den ſie aus der Ratur (unſerer
Seele) entlehnt, als die hoͤchſte Intelligenz und muͤßte die
natuͤrliche Theologie heiſſen. Der, ſo allein eine trans-
ſcendentale Theologie einraͤumt, wird Deiſt, der, ſo auch
eine natuͤrliche Theologie annimt, Theiſt genant. Der
erſtere giebt zu, daß wir allenfals das Daſeyn eines Ur-
weſens durch bloſſe Vernunft erkennen koͤnnen, aber unſer
Begriff von ihm blos transſcendental ſey, nemlich nur
als von einem Weſen, das alle Realitaͤt hat, die man
aber nicht naͤher beſtimmen kan. Der zweite behauptet,
die Vernunft ſey im Stande, den Gegenſtand nach der Ana-
logie mit der Natur naͤher zu beſtimmen, nemlich: als
ein Weſen, das durch Verſtand und Freiheit den Urgrund
aller anderen Dinge in ſich enthalte. Jener ſtellet ſich alſo
unter demſelben blos eine Welturſache, (ob durch die

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[631/0661] VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie. Des dritten Hauptſtuͤcks Siebenter Abſchnitt. Critik aller Theologie aus ſpeculativen Principien der Vernunft. Wenn ich unter Theologie die Erkentniß des Urweſens verſtehe, ſo iſt ſie entweder die aus bloſſer Ver- nunft (theologia rationalis) oder aus Offenbahrung (reve- lata). Die erſtere denkt ſich nun ihren Gegenſtand entwe- der blos durch reine Vernunft, vermittelſt lanter trans- ſcendentaler Begriffe, (ens originarium, realiſſimum, ens entium und heißt die transſcendentale Theologie, oder durch einen Begriff, den ſie aus der Ratur (unſerer Seele) entlehnt, als die hoͤchſte Intelligenz und muͤßte die natuͤrliche Theologie heiſſen. Der, ſo allein eine trans- ſcendentale Theologie einraͤumt, wird Deiſt, der, ſo auch eine natuͤrliche Theologie annimt, Theiſt genant. Der erſtere giebt zu, daß wir allenfals das Daſeyn eines Ur- weſens durch bloſſe Vernunft erkennen koͤnnen, aber unſer Begriff von ihm blos transſcendental ſey, nemlich nur als von einem Weſen, das alle Realitaͤt hat, die man aber nicht naͤher beſtimmen kan. Der zweite behauptet, die Vernunft ſey im Stande, den Gegenſtand nach der Ana- logie mit der Natur naͤher zu beſtimmen, nemlich: als ein Weſen, das durch Verſtand und Freiheit den Urgrund aller anderen Dinge in ſich enthalte. Jener ſtellet ſich alſo unter demſelben blos eine Welturſache, (ob durch die Noth- R r 4

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 631. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/661>, abgerufen am 26.04.2024.