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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Methodenlehre II. Hauptst. III. Absch.
Des
Canons der reinen Vernunft
Dritter Abschnitt.
Vom Meinen, Wissen und Glauben.

Das Vorwahrhalten ist eine Begebenheit in unserem
Verstande, die auf obiectiven Gründen beruhen
mag, aber auch subiective Ursachen im Gemüthe dessen,
der da urtheilt, erfodert. Wenn es vor iederman gültig
ist, so fern er nur Vernunft hat, so ist der Grund dessel-
ben obiectiv hinreichend und das Vorwahrhalten heißt als-
denn Ueberzeugung. Hat es nur in der besonderen Be-
schaffenheit des Subiect seinen Grund, so wird es Ueber-
redung
genant.

Ueberredung ist ein blosser Schein, weil der Grund
des Urtheils, welcher lediglich im Subiecte liegt, vor ob-
iectiv gehalten wird. Daher hat ein solches Urtheil auch
nur Privatgültigkeit und das Vorwahrhalten läßt sich nicht
mittheilen. Wahrheit aber beruht auf der Uebereinstim-
mung mit dem Obiecte, in Ansehung dessen folglich die
Urtheile eines ieden Verstandes einstimmig seyn müssen
(consentientia uni tertio, consentiunt inter se). Der
Probierstein des Vorwahrhaltens, ob es Ueberzeugung oder
blosse Ueberredung sey, ist also, äusserlich, die Möglich-
keit, dasselbe mitzutheilen und das Vorwahrhalten vor iedes
Menschen Vernunft gültig zu befinden; denn alsdenn ist
wenigstens eine Vermuthung, der Grund der Einstim-

mung
Methodenlehre II. Hauptſt. III. Abſch.
Des
Canons der reinen Vernunft
Dritter Abſchnitt.
Vom Meinen, Wiſſen und Glauben.

Das Vorwahrhalten iſt eine Begebenheit in unſerem
Verſtande, die auf obiectiven Gruͤnden beruhen
mag, aber auch ſubiective Urſachen im Gemuͤthe deſſen,
der da urtheilt, erfodert. Wenn es vor iederman guͤltig
iſt, ſo fern er nur Vernunft hat, ſo iſt der Grund deſſel-
ben obiectiv hinreichend und das Vorwahrhalten heißt als-
denn Ueberzeugung. Hat es nur in der beſonderen Be-
ſchaffenheit des Subiect ſeinen Grund, ſo wird es Ueber-
redung
genant.

Ueberredung iſt ein bloſſer Schein, weil der Grund
des Urtheils, welcher lediglich im Subiecte liegt, vor ob-
iectiv gehalten wird. Daher hat ein ſolches Urtheil auch
nur Privatguͤltigkeit und das Vorwahrhalten laͤßt ſich nicht
mittheilen. Wahrheit aber beruht auf der Uebereinſtim-
mung mit dem Obiecte, in Anſehung deſſen folglich die
Urtheile eines ieden Verſtandes einſtimmig ſeyn muͤſſen
(conſentientia uni tertio, conſentiunt inter ſe). Der
Probierſtein des Vorwahrhaltens, ob es Ueberzeugung oder
bloſſe Ueberredung ſey, iſt alſo, aͤuſſerlich, die Moͤglich-
keit, daſſelbe mitzutheilen und das Vorwahrhalten vor iedes
Menſchen Vernunft guͤltig zu befinden; denn alsdenn iſt
wenigſtens eine Vermuthung, der Grund der Einſtim-

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[820/0850] Methodenlehre II. Hauptſt. III. Abſch. Des Canons der reinen Vernunft Dritter Abſchnitt. Vom Meinen, Wiſſen und Glauben. Das Vorwahrhalten iſt eine Begebenheit in unſerem Verſtande, die auf obiectiven Gruͤnden beruhen mag, aber auch ſubiective Urſachen im Gemuͤthe deſſen, der da urtheilt, erfodert. Wenn es vor iederman guͤltig iſt, ſo fern er nur Vernunft hat, ſo iſt der Grund deſſel- ben obiectiv hinreichend und das Vorwahrhalten heißt als- denn Ueberzeugung. Hat es nur in der beſonderen Be- ſchaffenheit des Subiect ſeinen Grund, ſo wird es Ueber- redung genant. Ueberredung iſt ein bloſſer Schein, weil der Grund des Urtheils, welcher lediglich im Subiecte liegt, vor ob- iectiv gehalten wird. Daher hat ein ſolches Urtheil auch nur Privatguͤltigkeit und das Vorwahrhalten laͤßt ſich nicht mittheilen. Wahrheit aber beruht auf der Uebereinſtim- mung mit dem Obiecte, in Anſehung deſſen folglich die Urtheile eines ieden Verſtandes einſtimmig ſeyn muͤſſen (conſentientia uni tertio, conſentiunt inter ſe). Der Probierſtein des Vorwahrhaltens, ob es Ueberzeugung oder bloſſe Ueberredung ſey, iſt alſo, aͤuſſerlich, die Moͤglich- keit, daſſelbe mitzutheilen und das Vorwahrhalten vor iedes Menſchen Vernunft guͤltig zu befinden; denn alsdenn iſt wenigſtens eine Vermuthung, der Grund der Einſtim- mung

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 820. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/850>, abgerufen am 26.04.2024.