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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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einige Zimmer gemiethet, in denen er nicht ermangelte,
von Zeit zu Zeit seine Bekannten in der Weise der
Junggesellen zu bewirthen; sonst aber verbrachte er die
Abende gern im fröhlichen Umgange mit gereifteren
jungen Leuten verschiedener Nationalität, wie sie mit
Bürgerssöhnen aus gutem Hause vermischt in solchen
Orten sich zusammen zu thun pflegen und von der Mützen
tragenden Jugend leicht zu unterscheiden sind, wiewol sie
nicht verschmähen, bei derselben zuweilen vorzusprechen.

In jenem Hause, das noch mit weitläufigen Treppen
und Gängen versehen war, fiel ihm seit einiger Zeit bei
Ausgang und Rückkehr eine Dienstmagd auf von so
herrlichem Wuchs und Gang, daß das ärmliche, obgleich
saubere Kleid das Gewand eines Königskindes aus alter
Fabelzeit zu sein schien. Ob sie das Wassergefäß auf
dem Haupte oder den gefüllten Holzkorb vor sich her
trug, immer waren Glieder und Bewegung von der
gleichen geschmeidigen Kraft und gelassenen Schönheit;
alles aber war beherrscht und harmonisch zusammengehalten
durch ein Gesicht, dessen ruhige Regelmäßigkeit von einem
Zug leiser unbewußter Schwermuth veredelt wurde, einem
Zug so leicht und rein, wie der Schatten eines durch¬
sichtigen Kristalles. Erwin begegnete der schönen Person
nicht oft; jedesmal aber, wenn sie mit bescheiden gesenktem
Blick still vorüber ging, blieb die Erscheinung ihm stunden¬
lang im Sinne haften, ohne daß er jedoch besonders
darauf achtete. Eines Tages indessen, als sie auf den

einige Zimmer gemiethet, in denen er nicht ermangelte,
von Zeit zu Zeit ſeine Bekannten in der Weiſe der
Junggeſellen zu bewirthen; ſonſt aber verbrachte er die
Abende gern im fröhlichen Umgange mit gereifteren
jungen Leuten verſchiedener Nationalität, wie ſie mit
Bürgersſöhnen aus gutem Hauſe vermiſcht in ſolchen
Orten ſich zuſammen zu thun pflegen und von der Mützen
tragenden Jugend leicht zu unterſcheiden ſind, wiewol ſie
nicht verſchmähen, bei derſelben zuweilen vorzuſprechen.

In jenem Hauſe, das noch mit weitläufigen Treppen
und Gängen verſehen war, fiel ihm ſeit einiger Zeit bei
Ausgang und Rückkehr eine Dienſtmagd auf von ſo
herrlichem Wuchs und Gang, daß das ärmliche, obgleich
ſaubere Kleid das Gewand eines Königskindes aus alter
Fabelzeit zu ſein ſchien. Ob ſie das Waſſergefäß auf
dem Haupte oder den gefüllten Holzkorb vor ſich her
trug, immer waren Glieder und Bewegung von der
gleichen geſchmeidigen Kraft und gelaſſenen Schönheit;
alles aber war beherrſcht und harmoniſch zuſammengehalten
durch ein Geſicht, deſſen ruhige Regelmäßigkeit von einem
Zug leiſer unbewußter Schwermuth veredelt wurde, einem
Zug ſo leicht und rein, wie der Schatten eines durch¬
ſichtigen Kriſtalles. Erwin begegnete der ſchönen Perſon
nicht oft; jedesmal aber, wenn ſie mit beſcheiden geſenktem
Blick ſtill vorüber ging, blieb die Erſcheinung ihm ſtunden¬
lang im Sinne haften, ohne daß er jedoch beſonders
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[74/0084] einige Zimmer gemiethet, in denen er nicht ermangelte, von Zeit zu Zeit ſeine Bekannten in der Weiſe der Junggeſellen zu bewirthen; ſonſt aber verbrachte er die Abende gern im fröhlichen Umgange mit gereifteren jungen Leuten verſchiedener Nationalität, wie ſie mit Bürgersſöhnen aus gutem Hauſe vermiſcht in ſolchen Orten ſich zuſammen zu thun pflegen und von der Mützen tragenden Jugend leicht zu unterſcheiden ſind, wiewol ſie nicht verſchmähen, bei derſelben zuweilen vorzuſprechen. In jenem Hauſe, das noch mit weitläufigen Treppen und Gängen verſehen war, fiel ihm ſeit einiger Zeit bei Ausgang und Rückkehr eine Dienſtmagd auf von ſo herrlichem Wuchs und Gang, daß das ärmliche, obgleich ſaubere Kleid das Gewand eines Königskindes aus alter Fabelzeit zu ſein ſchien. Ob ſie das Waſſergefäß auf dem Haupte oder den gefüllten Holzkorb vor ſich her trug, immer waren Glieder und Bewegung von der gleichen geſchmeidigen Kraft und gelaſſenen Schönheit; alles aber war beherrſcht und harmoniſch zuſammengehalten durch ein Geſicht, deſſen ruhige Regelmäßigkeit von einem Zug leiſer unbewußter Schwermuth veredelt wurde, einem Zug ſo leicht und rein, wie der Schatten eines durch¬ ſichtigen Kriſtalles. Erwin begegnete der ſchönen Perſon nicht oft; jedesmal aber, wenn ſie mit beſcheiden geſenktem Blick ſtill vorüber ging, blieb die Erſcheinung ihm ſtunden¬ lang im Sinne haften, ohne daß er jedoch beſonders darauf achtete. Eines Tages indeſſen, als ſie auf den

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/84>, abgerufen am 29.04.2024.