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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

4) Wenn ein Mitglied des Reichstages ein besoldetes
Reichsamt
oder in einem Bundesstaate ein besoldetes
Staatsamt
annimmt oder im Reichs- oder Staatsdienste in ein
Amt eintritt, mit welchem ein höherer Rang oder ein höheres
Gehalt verbunden ist, so verliert es Sitz und Stimme in dem
Reichstage und kann seine Stelle in demselben nur durch neue
Wahl wieder erlangen. R.-V. Art. 21 Abs. 2 1). Die Entschei-
dung der Frage, ob in einem gegebenen Falle eine dieser Vor-
aussetzungen thatsächlich vorliegt oder nicht, gehört zur Prüfung
der Legitimation der Reichstags-Mitglieder und steht deßhalb dem
Reichstage allein zu.

5) Die Reichsverfassung kennt keinen Fall, in welchem einem
Mitgliede Sitz und Stimme im Reichstage zur Strafe entzogen
werden kann. Weder durch strafrichterliches Erkenntniß kann der
Verlust der Mitgliedschaft verhängt werden, noch ist der Reichstag
befugt, wegen dauernder Nichttheilnahme an den Geschäften des
Reichstages oder wegen unehrenhaften Verhaltens ein Mitglied
auszuschließen 2). Dagegen kann man die Frage erheben, ob nicht
ein Mitglied des Reichstages, welches die Wählbarkeit einbüßt,
dadurch von selbst Sitz und Stimme im Reichstage verliert 3). Die
Beantwortung der Frage kann zweifelhaft sein, weil die Beding-
ungen, um Mitglied des Reichstages zu werden, nicht dieselben
zu sein brauchen, wie die Bedingungen, um es zu bleiben.

Allein aus der Natur der Sache darf man wohl unbedenklich
die Bejahung der Frage herleiten. Es ergiebt sich dies zunächst
für den Fall, daß ein Reichstags-Mitglied auswandert und mithin

scheidens, die auf einem allgemeinen Gewohnheitsrecht beruht, implicite aner-
kannt. Die Niederlegung des Mandats muß ausdrücklich erklärt werden;
aus der Thatsache, daß ein Mitglied ohne Entschuldigung und ohne sogen. Ur-
laub sich fortgesetzt von den Reichstags-Geschäften fern hält, kann der Verzicht
auf die Mitgliedschaft nicht gefolgert werden.
1) Da diese Verfassungsbestimmung dem Art. 78 Abs. 3 der Preuß. Verf.-
Urk. entnommen ist, so kann in Betreff der Casuistik die staatsrechtl. Praxis
Preußens Verwerthung finden. Ueber dieselbe stellt ein reichhaltiges Material
zusammen v. Rönne Preuß. Staatsr. § 118. (3. Aufl. I. 2. S. 394 fg.)
2) Vrgl. über diese Frage die Stenogr. Berichte 1868. S. 296. 454 ff.
Thudichum S. 197. 198.
3) Dafür erklären sich auch, wenngleich ohne Begründung, v. Pözl S. 126,
v. Rönne S. 167, Schwarze Commentar zum St.-G.-B. S. 104.
§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

4) Wenn ein Mitglied des Reichstages ein beſoldetes
Reichsamt
oder in einem Bundesſtaate ein beſoldetes
Staatsamt
annimmt oder im Reichs- oder Staatsdienſte in ein
Amt eintritt, mit welchem ein höherer Rang oder ein höheres
Gehalt verbunden iſt, ſo verliert es Sitz und Stimme in dem
Reichstage und kann ſeine Stelle in demſelben nur durch neue
Wahl wieder erlangen. R.-V. Art. 21 Abſ. 2 1). Die Entſchei-
dung der Frage, ob in einem gegebenen Falle eine dieſer Vor-
ausſetzungen thatſächlich vorliegt oder nicht, gehört zur Prüfung
der Legitimation der Reichstags-Mitglieder und ſteht deßhalb dem
Reichstage allein zu.

5) Die Reichsverfaſſung kennt keinen Fall, in welchem einem
Mitgliede Sitz und Stimme im Reichstage zur Strafe entzogen
werden kann. Weder durch ſtrafrichterliches Erkenntniß kann der
Verluſt der Mitgliedſchaft verhängt werden, noch iſt der Reichstag
befugt, wegen dauernder Nichttheilnahme an den Geſchäften des
Reichstages oder wegen unehrenhaften Verhaltens ein Mitglied
auszuſchließen 2). Dagegen kann man die Frage erheben, ob nicht
ein Mitglied des Reichstages, welches die Wählbarkeit einbüßt,
dadurch von ſelbſt Sitz und Stimme im Reichstage verliert 3). Die
Beantwortung der Frage kann zweifelhaft ſein, weil die Beding-
ungen, um Mitglied des Reichstages zu werden, nicht dieſelben
zu ſein brauchen, wie die Bedingungen, um es zu bleiben.

Allein aus der Natur der Sache darf man wohl unbedenklich
die Bejahung der Frage herleiten. Es ergiebt ſich dies zunächſt
für den Fall, daß ein Reichstags-Mitglied auswandert und mithin

ſcheidens, die auf einem allgemeinen Gewohnheitsrecht beruht, implicite aner-
kannt. Die Niederlegung des Mandats muß ausdrücklich erklärt werden;
aus der Thatſache, daß ein Mitglied ohne Entſchuldigung und ohne ſogen. Ur-
laub ſich fortgeſetzt von den Reichstags-Geſchäften fern hält, kann der Verzicht
auf die Mitgliedſchaft nicht gefolgert werden.
1) Da dieſe Verfaſſungsbeſtimmung dem Art. 78 Abſ. 3 der Preuß. Verf.-
Urk. entnommen iſt, ſo kann in Betreff der Caſuiſtik die ſtaatsrechtl. Praxis
Preußens Verwerthung finden. Ueber dieſelbe ſtellt ein reichhaltiges Material
zuſammen v. Rönne Preuß. Staatsr. § 118. (3. Aufl. I. 2. S. 394 fg.)
2) Vrgl. über dieſe Frage die Stenogr. Berichte 1868. S. 296. 454 ff.
Thudichum S. 197. 198.
3) Dafür erklären ſich auch, wenngleich ohne Begründung, v. Pözl S. 126,
v. Rönne S. 167, Schwarze Commentar zum St.-G.-B. S. 104.
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[555/0575] §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. 4) Wenn ein Mitglied des Reichstages ein beſoldetes Reichsamt oder in einem Bundesſtaate ein beſoldetes Staatsamt annimmt oder im Reichs- oder Staatsdienſte in ein Amt eintritt, mit welchem ein höherer Rang oder ein höheres Gehalt verbunden iſt, ſo verliert es Sitz und Stimme in dem Reichstage und kann ſeine Stelle in demſelben nur durch neue Wahl wieder erlangen. R.-V. Art. 21 Abſ. 2 1). Die Entſchei- dung der Frage, ob in einem gegebenen Falle eine dieſer Vor- ausſetzungen thatſächlich vorliegt oder nicht, gehört zur Prüfung der Legitimation der Reichstags-Mitglieder und ſteht deßhalb dem Reichstage allein zu. 5) Die Reichsverfaſſung kennt keinen Fall, in welchem einem Mitgliede Sitz und Stimme im Reichstage zur Strafe entzogen werden kann. Weder durch ſtrafrichterliches Erkenntniß kann der Verluſt der Mitgliedſchaft verhängt werden, noch iſt der Reichstag befugt, wegen dauernder Nichttheilnahme an den Geſchäften des Reichstages oder wegen unehrenhaften Verhaltens ein Mitglied auszuſchließen 2). Dagegen kann man die Frage erheben, ob nicht ein Mitglied des Reichstages, welches die Wählbarkeit einbüßt, dadurch von ſelbſt Sitz und Stimme im Reichstage verliert 3). Die Beantwortung der Frage kann zweifelhaft ſein, weil die Beding- ungen, um Mitglied des Reichstages zu werden, nicht dieſelben zu ſein brauchen, wie die Bedingungen, um es zu bleiben. Allein aus der Natur der Sache darf man wohl unbedenklich die Bejahung der Frage herleiten. Es ergiebt ſich dies zunächſt für den Fall, daß ein Reichstags-Mitglied auswandert und mithin 5) 1) Da dieſe Verfaſſungsbeſtimmung dem Art. 78 Abſ. 3 der Preuß. Verf.- Urk. entnommen iſt, ſo kann in Betreff der Caſuiſtik die ſtaatsrechtl. Praxis Preußens Verwerthung finden. Ueber dieſelbe ſtellt ein reichhaltiges Material zuſammen v. Rönne Preuß. Staatsr. § 118. (3. Aufl. I. 2. S. 394 fg.) 2) Vrgl. über dieſe Frage die Stenogr. Berichte 1868. S. 296. 454 ff. Thudichum S. 197. 198. 3) Dafür erklären ſich auch, wenngleich ohne Begründung, v. Pözl S. 126, v. Rönne S. 167, Schwarze Commentar zum St.-G.-B. S. 104. 5) ſcheidens, die auf einem allgemeinen Gewohnheitsrecht beruht, implicite aner- kannt. Die Niederlegung des Mandats muß ausdrücklich erklärt werden; aus der Thatſache, daß ein Mitglied ohne Entſchuldigung und ohne ſogen. Ur- laub ſich fortgeſetzt von den Reichstags-Geſchäften fern hält, kann der Verzicht auf die Mitgliedſchaft nicht gefolgert werden.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 555. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/575>, abgerufen am 27.04.2024.