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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 54. Bundesglied und Reichsland.
Ges. v. 1. Juni 1870 über die Erwerbung und den Verlust der
Bundes- und Staatsangehörigkeit setzen voraus, daß jeder Reichs-
angehörige Angehöriger eines Bundesstaates ist; nach Art. 6 ff.
besteht der Bundesrath aus den Vertretern der Mitglieder
des Bundes
; Art. 19 spricht von der zwangsweisen Anhaltung
der Bundesglieder zur Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen
Bundespflichten. Art. 36 überläßt jedem Bundesstaate
die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchssteuern,
soweit derselbe sie bisher ausgeübt hat; nach dem Wortlaut des
Art. 42 "verpflichten sich die Bundes-Regierungen",
die deutschen Eisenbahnen im Interesse des allgemeinen Verkehrs
wie ein einheitliches Netz verwalten zu lassen. Art. 51 normirt die
zeitweise Vertheilung der Postüberschüsse unter die einzelnen
Staaten
. Art. 54 erwähnt die Kauffahrteischiffe, Seehäfen und
Wasserstraßen aller Bundesstaaten. Nach Art. 58 sind die
Kosten und Lasten des gesammten Kriegswesens des Reichs von
allen Bundesstaaten
gleichmäßig zu tragen; nach Art. 62
u. 70 sind die Beiträge zu den Ausgaben des Reiches von den
einzelnen Staaten des Bundes zu entrichten. Alle diese
Anordnungen und noch zahlreiche andere 1) beruhen auf der völlig
selbstverständlichen Voraussetzung, daß das Reich lediglich aus
Staaten besteht.

Die Einführung der Reichs-Verfassung in Elsaß-Lothringen,
nicht blos dem Buchstaben, sondern dem Wesen nach, war daher
nicht denkbar und nicht möglich, wenn nicht auch hier eine von
der Reichsgewalt verschiedene Staatsgewalt aufgerichtet wurde,
d. h. wenn nicht entweder das Gebiet einem oder mehreren deutschen
Staaten zugetheilt oder ein besonderer Staat aus demselben ge-
macht wurde. Beides ist aus zwingenden Gründen der Politik
nicht geschehen 2); die von Frankreich abgetretenen Gebiete wurden
vielmehr als sogen. Reichsland 3) mit dem deutschen Reiche ver-

1) Z. B. Art. 33. 35. 38. 39. 41. 56. 59. 66. 67. 76. 77. 78. Abs. 2.
2) Vgl. den Kommissionsbericht des Reichstages v. 16. Mai 1871. Druck-
sachen I. Sess. 1871 Nr. 133. S. 3 fg.
3) Der Ausdruck "Reichsland", "unmittelbares Reichsland" wird offiziell
zuerst gebraucht in den Motiven zum Entwurf des Vereinigungs-Gesetzes.
Drucksachen I. Session 1871, Nr. 61. S. 6. Vgl. auch Mitscher a. a. O.
S. 272. Daß man über den staatsrechtlichen Begriff eines Reichslandes sich
37*

§. 54. Bundesglied und Reichsland.
Geſ. v. 1. Juni 1870 über die Erwerbung und den Verluſt der
Bundes- und Staatsangehörigkeit ſetzen voraus, daß jeder Reichs-
angehörige Angehöriger eines Bundesſtaates iſt; nach Art. 6 ff.
beſteht der Bundesrath aus den Vertretern der Mitglieder
des Bundes
; Art. 19 ſpricht von der zwangsweiſen Anhaltung
der Bundesglieder zur Erfüllung ihrer verfaſſungsmäßigen
Bundespflichten. Art. 36 überläßt jedem Bundesſtaate
die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern,
ſoweit derſelbe ſie bisher ausgeübt hat; nach dem Wortlaut des
Art. 42 „verpflichten ſich die Bundes-Regierungen“,
die deutſchen Eiſenbahnen im Intereſſe des allgemeinen Verkehrs
wie ein einheitliches Netz verwalten zu laſſen. Art. 51 normirt die
zeitweiſe Vertheilung der Poſtüberſchüſſe unter die einzelnen
Staaten
. Art. 54 erwähnt die Kauffahrteiſchiffe, Seehäfen und
Waſſerſtraßen aller Bundesſtaaten. Nach Art. 58 ſind die
Koſten und Laſten des geſammten Kriegsweſens des Reichs von
allen Bundesſtaaten
gleichmäßig zu tragen; nach Art. 62
u. 70 ſind die Beiträge zu den Ausgaben des Reiches von den
einzelnen Staaten des Bundes zu entrichten. Alle dieſe
Anordnungen und noch zahlreiche andere 1) beruhen auf der völlig
ſelbſtverſtändlichen Vorausſetzung, daß das Reich lediglich aus
Staaten beſteht.

Die Einführung der Reichs-Verfaſſung in Elſaß-Lothringen,
nicht blos dem Buchſtaben, ſondern dem Weſen nach, war daher
nicht denkbar und nicht möglich, wenn nicht auch hier eine von
der Reichsgewalt verſchiedene Staatsgewalt aufgerichtet wurde,
d. h. wenn nicht entweder das Gebiet einem oder mehreren deutſchen
Staaten zugetheilt oder ein beſonderer Staat aus demſelben ge-
macht wurde. Beides iſt aus zwingenden Gründen der Politik
nicht geſchehen 2); die von Frankreich abgetretenen Gebiete wurden
vielmehr als ſogen. Reichsland 3) mit dem deutſchen Reiche ver-

1) Z. B. Art. 33. 35. 38. 39. 41. 56. 59. 66. 67. 76. 77. 78. Abſ. 2.
2) Vgl. den Kommiſſionsbericht des Reichstages v. 16. Mai 1871. Druck-
ſachen I. Seſſ. 1871 Nr. 133. S. 3 fg.
3) Der Ausdruck „Reichsland“, „unmittelbares Reichsland“ wird offiziell
zuerſt gebraucht in den Motiven zum Entwurf des Vereinigungs-Geſetzes.
Druckſachen I. Seſſion 1871, Nr. 61. S. 6. Vgl. auch Mitſcher a. a. O.
S. 272. Daß man über den ſtaatsrechtlichen Begriff eines Reichslandes ſich
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[579/0599] §. 54. Bundesglied und Reichsland. Geſ. v. 1. Juni 1870 über die Erwerbung und den Verluſt der Bundes- und Staatsangehörigkeit ſetzen voraus, daß jeder Reichs- angehörige Angehöriger eines Bundesſtaates iſt; nach Art. 6 ff. beſteht der Bundesrath aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes; Art. 19 ſpricht von der zwangsweiſen Anhaltung der Bundesglieder zur Erfüllung ihrer verfaſſungsmäßigen Bundespflichten. Art. 36 überläßt jedem Bundesſtaate die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern, ſoweit derſelbe ſie bisher ausgeübt hat; nach dem Wortlaut des Art. 42 „verpflichten ſich die Bundes-Regierungen“, die deutſchen Eiſenbahnen im Intereſſe des allgemeinen Verkehrs wie ein einheitliches Netz verwalten zu laſſen. Art. 51 normirt die zeitweiſe Vertheilung der Poſtüberſchüſſe unter die einzelnen Staaten. Art. 54 erwähnt die Kauffahrteiſchiffe, Seehäfen und Waſſerſtraßen aller Bundesſtaaten. Nach Art. 58 ſind die Koſten und Laſten des geſammten Kriegsweſens des Reichs von allen Bundesſtaaten gleichmäßig zu tragen; nach Art. 62 u. 70 ſind die Beiträge zu den Ausgaben des Reiches von den einzelnen Staaten des Bundes zu entrichten. Alle dieſe Anordnungen und noch zahlreiche andere 1) beruhen auf der völlig ſelbſtverſtändlichen Vorausſetzung, daß das Reich lediglich aus Staaten beſteht. Die Einführung der Reichs-Verfaſſung in Elſaß-Lothringen, nicht blos dem Buchſtaben, ſondern dem Weſen nach, war daher nicht denkbar und nicht möglich, wenn nicht auch hier eine von der Reichsgewalt verſchiedene Staatsgewalt aufgerichtet wurde, d. h. wenn nicht entweder das Gebiet einem oder mehreren deutſchen Staaten zugetheilt oder ein beſonderer Staat aus demſelben ge- macht wurde. Beides iſt aus zwingenden Gründen der Politik nicht geſchehen 2); die von Frankreich abgetretenen Gebiete wurden vielmehr als ſogen. Reichsland 3) mit dem deutſchen Reiche ver- 1) Z. B. Art. 33. 35. 38. 39. 41. 56. 59. 66. 67. 76. 77. 78. Abſ. 2. 2) Vgl. den Kommiſſionsbericht des Reichstages v. 16. Mai 1871. Druck- ſachen I. Seſſ. 1871 Nr. 133. S. 3 fg. 3) Der Ausdruck „Reichsland“, „unmittelbares Reichsland“ wird offiziell zuerſt gebraucht in den Motiven zum Entwurf des Vereinigungs-Geſetzes. Druckſachen I. Seſſion 1871, Nr. 61. S. 6. Vgl. auch Mitſcher a. a. O. S. 272. Daß man über den ſtaatsrechtlichen Begriff eines Reichslandes ſich 37*

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/599>, abgerufen am 26.04.2024.