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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen.
kann keine Steuer eingeführt oder aufgehoben werden als auf
Grund eines vom Reiche erlassenen Gesetzes; es kann der Be-
völkerung keine Leistung auferlegt oder erlassen, es kann keine
Einnahmequelle und kein Rechtsgrund für Ausgaben geschaffen
werden ohne einen Willensakt des Reiches oder der Organe des-
selben. Das Reich muß, wenn es erforderlich ist, zu Ausgaben
der Landesverwaltung Zuschüsse geben, wie dies z. B. hinsichtlich
der Universität Straßburg geschehen ist, und das Reich ist an-
dererseits rechtlich befugt, Ueberschüsse der Landesverwaltung der
Reichskasse zu überweisen. Die Finanzwirthschaft Elsaß-Lothringens
ist nicht die selbstständige Finanzwirthschaft eines Gliedstaates, son-
dern es ist die abgesonderte Provinzial-Finanzwirthschaft des Reiches.

Die Lösung des hohen politischen Problems, die deutschen
Völker und Länder dergestalt zu einigen, daß die Gesammtheit
Lebensfähigkeit und Kraft gewinne und die einzelnen Theile dabei
doch ihre individuelle Besonderheit nicht verlieren und die in ihrer
Eigenartigkeit begründeten Interessen Berücksichtigung und Pflege
finden können, war in zwei verschiedenen staatsrechtlichen Formen
möglich; in der des Bundesstaates und der des dezentralisirten
Einheitsstaates. Die Annahme der Reichsverfassung hat die erste
Form, die Erklärung Elsaß-Lothringens zum Reichslande die zweite
Form verwirklicht. Obgleich die Reichsverf. im Reichslande ein-
geführt worden ist, so bildet doch die Existenz des Reichslandes
geradezu den Gegensatz zu dem Prinzip der Reichsverfassung.

Ob das deutsche Reich diesen Dualismus auf die Dauer ver-
tragen wird, oder ob das Reichsland im Laufe der Zeit sich zu
einem Staate umwandeln wird, der den andern Gliedstaaten des
Reiches gleichartig ist und auf den die Reichsverfassung nicht nur
dem Klang der Worte, sondern der Sache nach angewendet werden
kann, oder ob endlich die Stellung des Reichslandes bereits als
der Vorbote einer neuen Verfassungsform des deutschen Reiches
anzusehen ist, zu welcher sich die jetzt bestehende bundesstaatliche
Form fortentwickeln wird, das sind Fragen, welche nicht in den
Kreis des Staatsrechts fallen. Bemerkenswerth ist aber die That-
sache, daß dieselben ruhmreichen Ereignisse, welche die Erweiterung
des Norddeutschen Bundes zum deutschen Reiche ermöglichten und
die Wiederaufrichtung des deutschen Staates zum Abschluß brachten,
zugleich diesem deutschen Reich durch das Reichsland ein Element

§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.
kann keine Steuer eingeführt oder aufgehoben werden als auf
Grund eines vom Reiche erlaſſenen Geſetzes; es kann der Be-
völkerung keine Leiſtung auferlegt oder erlaſſen, es kann keine
Einnahmequelle und kein Rechtsgrund für Ausgaben geſchaffen
werden ohne einen Willensakt des Reiches oder der Organe des-
ſelben. Das Reich muß, wenn es erforderlich iſt, zu Ausgaben
der Landesverwaltung Zuſchüſſe geben, wie dies z. B. hinſichtlich
der Univerſität Straßburg geſchehen iſt, und das Reich iſt an-
dererſeits rechtlich befugt, Ueberſchüſſe der Landesverwaltung der
Reichskaſſe zu überweiſen. Die Finanzwirthſchaft Elſaß-Lothringens
iſt nicht die ſelbſtſtändige Finanzwirthſchaft eines Gliedſtaates, ſon-
dern es iſt die abgeſonderte Provinzial-Finanzwirthſchaft des Reiches.

Die Löſung des hohen politiſchen Problems, die deutſchen
Völker und Länder dergeſtalt zu einigen, daß die Geſammtheit
Lebensfähigkeit und Kraft gewinne und die einzelnen Theile dabei
doch ihre individuelle Beſonderheit nicht verlieren und die in ihrer
Eigenartigkeit begründeten Intereſſen Berückſichtigung und Pflege
finden können, war in zwei verſchiedenen ſtaatsrechtlichen Formen
möglich; in der des Bundesſtaates und der des dezentraliſirten
Einheitsſtaates. Die Annahme der Reichsverfaſſung hat die erſte
Form, die Erklärung Elſaß-Lothringens zum Reichslande die zweite
Form verwirklicht. Obgleich die Reichsverf. im Reichslande ein-
geführt worden iſt, ſo bildet doch die Exiſtenz des Reichslandes
geradezu den Gegenſatz zu dem Prinzip der Reichsverfaſſung.

Ob das deutſche Reich dieſen Dualismus auf die Dauer ver-
tragen wird, oder ob das Reichsland im Laufe der Zeit ſich zu
einem Staate umwandeln wird, der den andern Gliedſtaaten des
Reiches gleichartig iſt und auf den die Reichsverfaſſung nicht nur
dem Klang der Worte, ſondern der Sache nach angewendet werden
kann, oder ob endlich die Stellung des Reichslandes bereits als
der Vorbote einer neuen Verfaſſungsform des deutſchen Reiches
anzuſehen iſt, zu welcher ſich die jetzt beſtehende bundesſtaatliche
Form fortentwickeln wird, das ſind Fragen, welche nicht in den
Kreis des Staatsrechts fallen. Bemerkenswerth iſt aber die That-
ſache, daß dieſelben ruhmreichen Ereigniſſe, welche die Erweiterung
des Norddeutſchen Bundes zum deutſchen Reiche ermöglichten und
die Wiederaufrichtung des deutſchen Staates zum Abſchluß brachten,
zugleich dieſem deutſchen Reich durch das Reichsland ein Element

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[612/0632] §. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen. kann keine Steuer eingeführt oder aufgehoben werden als auf Grund eines vom Reiche erlaſſenen Geſetzes; es kann der Be- völkerung keine Leiſtung auferlegt oder erlaſſen, es kann keine Einnahmequelle und kein Rechtsgrund für Ausgaben geſchaffen werden ohne einen Willensakt des Reiches oder der Organe des- ſelben. Das Reich muß, wenn es erforderlich iſt, zu Ausgaben der Landesverwaltung Zuſchüſſe geben, wie dies z. B. hinſichtlich der Univerſität Straßburg geſchehen iſt, und das Reich iſt an- dererſeits rechtlich befugt, Ueberſchüſſe der Landesverwaltung der Reichskaſſe zu überweiſen. Die Finanzwirthſchaft Elſaß-Lothringens iſt nicht die ſelbſtſtändige Finanzwirthſchaft eines Gliedſtaates, ſon- dern es iſt die abgeſonderte Provinzial-Finanzwirthſchaft des Reiches. Die Löſung des hohen politiſchen Problems, die deutſchen Völker und Länder dergeſtalt zu einigen, daß die Geſammtheit Lebensfähigkeit und Kraft gewinne und die einzelnen Theile dabei doch ihre individuelle Beſonderheit nicht verlieren und die in ihrer Eigenartigkeit begründeten Intereſſen Berückſichtigung und Pflege finden können, war in zwei verſchiedenen ſtaatsrechtlichen Formen möglich; in der des Bundesſtaates und der des dezentraliſirten Einheitsſtaates. Die Annahme der Reichsverfaſſung hat die erſte Form, die Erklärung Elſaß-Lothringens zum Reichslande die zweite Form verwirklicht. Obgleich die Reichsverf. im Reichslande ein- geführt worden iſt, ſo bildet doch die Exiſtenz des Reichslandes geradezu den Gegenſatz zu dem Prinzip der Reichsverfaſſung. Ob das deutſche Reich dieſen Dualismus auf die Dauer ver- tragen wird, oder ob das Reichsland im Laufe der Zeit ſich zu einem Staate umwandeln wird, der den andern Gliedſtaaten des Reiches gleichartig iſt und auf den die Reichsverfaſſung nicht nur dem Klang der Worte, ſondern der Sache nach angewendet werden kann, oder ob endlich die Stellung des Reichslandes bereits als der Vorbote einer neuen Verfaſſungsform des deutſchen Reiches anzuſehen iſt, zu welcher ſich die jetzt beſtehende bundesſtaatliche Form fortentwickeln wird, das ſind Fragen, welche nicht in den Kreis des Staatsrechts fallen. Bemerkenswerth iſt aber die That- ſache, daß dieſelben ruhmreichen Ereigniſſe, welche die Erweiterung des Norddeutſchen Bundes zum deutſchen Reiche ermöglichten und die Wiederaufrichtung des deutſchen Staates zum Abſchluß brachten, zugleich dieſem deutſchen Reich durch das Reichsland ein Element

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/632>, abgerufen am 26.04.2024.