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Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816.

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Frieden gewollt. Hiermit stimmt der Nibelungen Noth
vollkommen überein. Nur den Grund, den Hagen nach
Dieterichs Bericht angab: weil Giselher und Gernot todt
wären und Hildebrand Volkern erschlagen, oder wie es in
einer anderen Stelle (Z. 4110 f.) heißt, weil sie vor Leide
nach den anderen nicht leben wollten -- diesen Grund
kennt unser Lied nicht, vielmehr wird der in der Klage (Z.
1288) Günthern zugeschriebene,
Do het' er des gedingen,
Ern lieze niemen hie genesen,

hier noch deutlicher ausgesprochen, indem Hagen schon als
er Dieterich kommt sieht, sich vermißt, er wage ihn recht
wohl zu bestehen;
Man sol daz hute kiesen, wem man des besten muge
jehen.

Nach der Klage nun streitet Dieterich nicht, wie in
den Nibelungen, zuerst mit Hagen, sondern mit Günther,
der ihn, obgleich müde, als ein Degen bestand (Z. 4114
f.). Dreimahl von Günther niedergeschlagen (Z. 1292 --
1295) -- ein Umstand, den die Nibelungen nicht erwäh-
nen, -- zwingt ihn Dieterich zuletzt mit Schwertschlägen,
und gewinnt ihn zum Geisel (Z. 4116 f.), indem er ihn
bindet, "mit einer verchwunden" (Z. 1296 -- 1299). Da-
nach bestand ihn Hagen zu derselben Zeit (Z. 4120 ff.);
auch ihn band Dieterich (Z. 803 -- 805) und überantwor-
tete beide der Königinn (Z. 4126 f.). Er vermuthetr nicht,
daß Kriemhild Günthern würde tödten lassen (Z. 1300 --
1303). Nach den Nibelungen bringt er ihr jeden beson-
ders, und Hagen schlägt ihm zuvor noch eine Wunde, die
war tief und lang (Z. 9516). Was sie dann noch mit Ha-

Frieden gewollt. Hiermit ſtimmt der Nibelungen Noth
vollkommen überein. Nur den Grund, den Hagen nach
Dieterichs Bericht angab: weil Giſelher und Gernot todt
wären und Hildebrand Volkern erſchlagen, oder wie es in
einer anderen Stelle (Z. 4110 f.) heißt, weil ſie vor Leide
nach den anderen nicht leben wollten — dieſen Grund
kennt unſer Lied nicht, vielmehr wird der in der Klage (Z.
1288) Günthern zugeſchriebene,
Do het’ er des gedingen,
Ern lieze niemen hie geneſen,

hier noch deutlicher ausgeſprochen, indem Hagen ſchon als
er Dieterich kommt ſieht, ſich vermißt, er wage ihn recht
wohl zu beſtehen;
Man ſol daz hu̓te kieſen, wem man des beſten muge
jehen.

Nach der Klage nun ſtreitet Dieterich nicht, wie in
den Nibelungen, zuerſt mit Hagen, ſondern mit Günther,
der ihn, obgleich müde, als ein Degen beſtand (Z. 4114
f.). Dreimahl von Günther niedergeſchlagen (Z. 1292 —
1295) — ein Umſtand, den die Nibelungen nicht erwäh-
nen, — zwingt ihn Dieterich zuletzt mit Schwertſchlägen,
und gewinnt ihn zum Geiſel (Z. 4116 f.), indem er ihn
bindet, »mit einer verchwunden« (Z. 1296 — 1299). Da-
nach beſtand ihn Hagen zu derſelben Zeit (Z. 4120 ff.);
auch ihn band Dieterich (Z. 803 — 805) und überantwor-
tete beide der Königinn (Z. 4126 f.). Er vermuthetr nicht,
daß Kriemhild Günthern würde tödten laſſen (Z. 1300 —
1303). Nach den Nibelungen bringt er ihr jeden beſon-
ders, und Hagen ſchlägt ihm zuvor noch eine Wunde, die
war tief und lang (Z. 9516). Was ſie dann noch mit Ha-

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[57/0065] Frieden gewollt. Hiermit ſtimmt der Nibelungen Noth vollkommen überein. Nur den Grund, den Hagen nach Dieterichs Bericht angab: weil Giſelher und Gernot todt wären und Hildebrand Volkern erſchlagen, oder wie es in einer anderen Stelle (Z. 4110 f.) heißt, weil ſie vor Leide nach den anderen nicht leben wollten — dieſen Grund kennt unſer Lied nicht, vielmehr wird der in der Klage (Z. 1288) Günthern zugeſchriebene, Do het’ er des gedingen, Ern lieze niemen hie geneſen, hier noch deutlicher ausgeſprochen, indem Hagen ſchon als er Dieterich kommt ſieht, ſich vermißt, er wage ihn recht wohl zu beſtehen; Man ſol daz hu̓te kieſen, wem man des beſten muge jehen. Nach der Klage nun ſtreitet Dieterich nicht, wie in den Nibelungen, zuerſt mit Hagen, ſondern mit Günther, der ihn, obgleich müde, als ein Degen beſtand (Z. 4114 f.). Dreimahl von Günther niedergeſchlagen (Z. 1292 — 1295) — ein Umſtand, den die Nibelungen nicht erwäh- nen, — zwingt ihn Dieterich zuletzt mit Schwertſchlägen, und gewinnt ihn zum Geiſel (Z. 4116 f.), indem er ihn bindet, »mit einer verchwunden« (Z. 1296 — 1299). Da- nach beſtand ihn Hagen zu derſelben Zeit (Z. 4120 ff.); auch ihn band Dieterich (Z. 803 — 805) und überantwor- tete beide der Königinn (Z. 4126 f.). Er vermuthetr nicht, daß Kriemhild Günthern würde tödten laſſen (Z. 1300 — 1303). Nach den Nibelungen bringt er ihr jeden beſon- ders, und Hagen ſchlägt ihm zuvor noch eine Wunde, die war tief und lang (Z. 9516). Was ſie dann noch mit Ha-

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Zitationshilfe: Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lachmann_nibelungen_1816/65>, abgerufen am 27.04.2024.