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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XI. Fragment.

"Was sollte man aus einem bloßen Schattenrisse sehen können?" -- hab' ich schon hun-
dert Menschen fragen gehört -- aber keinem Einzigen von diesen hunderten Schattenbilder vorge-
legt, die sie nicht wenigstens zum Theil beurtheilten -- oft sehr richtig -- oft richtiger, als ich!

Um die erstaunenswürdige Bedeutsamkeit eines bloßen Schattenrisses recht anschaubar
und gewiß zu machen, darf man entweder nur die entgegengesetztesten Charaktere von Menschen
im Schattenbild gegen einander halten -- oder noch besser -- höchst ungleiche willkührliche Ge-
sichter aus schwarzem Papier schneiden, oder sonst zeichnen -- oder, wenn man im Beobachten
einige Uebung erlangt hat, nur z. E. ein schwarzes Stück Papier doppelt zusammen legen, und
aus diesem doppelten Papiere ein Gesicht ausschneiden; denn dasselbe auflegen und nachher die
Eine Seite mit der Scheere nur sehr wenig, dann immer mehr ändern, und bey jeder Aende-
rung aufs neue sein Aug', oder vielmehr sein Gefühl fragen; oder endlich, nur von demselben
Gesichte mehrere Schattenrisse nehmen lassen, und diese vergleichen -- Man wird erstaunen, wie
kleine Abweichungen den Eindruck verändern -- Man erinnere sich an den Apoll im I. Theile --
Beyspiele ohne Zahl werden uns noch aufstoßen.

Jm nächsten Fragmente wollen wir unsere Leser durch eine Menge bloßer Silhouetten
durchführen und sehen -- was gesehen werden kann? Vorher noch nur Ein Wort von der besten
Art Silhouetten zu ziehen.

Die gewöhnliche ist mit vielen Unbequemlichkeiten begleitet. Die Person kann schwerlich
stille genug sitzen -- der Zeichner ist genöthigt, seinen Platz zu verändern -- er muß der Person
so nahe aufs Gesicht kommen, daß eine Störung auf irgend einer Seite beynah' unausweichlich
ist -- und überhaupt ist der Zeichner in der unbequemsten Stellung -- und die Zurüstung ist weder
allenthalben möglich -- noch simpel genug.

Jch befinde mich daher weit besser bey einer geflissentlich zu diesem Zwecke verfertigten Ses-
selrahme; wo der Schatten auf ein Postpapier, oder besser, ein zartgeöltes und wohl getrockne-
tes Papier fällt; wo man den Kopf und den Rücken fest anlehnen kann; der Schatten fällt aufs
Oelpapier, dieß liegt hinter dem reinen flachen Glase, mit einer gevierten Rahme festgedrückt, die
vermittelst einiger kleinen Schiebergen los und festgemacht werden kann. Der Zeichner sitzt hinter
dem Glase auf einem an dem Sessel, der allenfalls zusammengelegt werden kann, festgemachten,

dem
XI. Fragment.

„Was ſollte man aus einem bloßen Schattenriſſe ſehen koͤnnen?“ — hab’ ich ſchon hun-
dert Menſchen fragen gehoͤrt — aber keinem Einzigen von dieſen hunderten Schattenbilder vorge-
legt, die ſie nicht wenigſtens zum Theil beurtheilten — oft ſehr richtig — oft richtiger, als ich!

Um die erſtaunenswuͤrdige Bedeutſamkeit eines bloßen Schattenriſſes recht anſchaubar
und gewiß zu machen, darf man entweder nur die entgegengeſetzteſten Charaktere von Menſchen
im Schattenbild gegen einander halten — oder noch beſſer — hoͤchſt ungleiche willkuͤhrliche Ge-
ſichter aus ſchwarzem Papier ſchneiden, oder ſonſt zeichnen — oder, wenn man im Beobachten
einige Uebung erlangt hat, nur z. E. ein ſchwarzes Stuͤck Papier doppelt zuſammen legen, und
aus dieſem doppelten Papiere ein Geſicht ausſchneiden; denn daſſelbe auflegen und nachher die
Eine Seite mit der Scheere nur ſehr wenig, dann immer mehr aͤndern, und bey jeder Aende-
rung aufs neue ſein Aug’, oder vielmehr ſein Gefuͤhl fragen; oder endlich, nur von demſelben
Geſichte mehrere Schattenriſſe nehmen laſſen, und dieſe vergleichen — Man wird erſtaunen, wie
kleine Abweichungen den Eindruck veraͤndern — Man erinnere ſich an den Apoll im I. Theile —
Beyſpiele ohne Zahl werden uns noch aufſtoßen.

Jm naͤchſten Fragmente wollen wir unſere Leſer durch eine Menge bloßer Silhouetten
durchfuͤhren und ſehen — was geſehen werden kann? Vorher noch nur Ein Wort von der beſten
Art Silhouetten zu ziehen.

Die gewoͤhnliche iſt mit vielen Unbequemlichkeiten begleitet. Die Perſon kann ſchwerlich
ſtille genug ſitzen — der Zeichner iſt genoͤthigt, ſeinen Platz zu veraͤndern — er muß der Perſon
ſo nahe aufs Geſicht kommen, daß eine Stoͤrung auf irgend einer Seite beynah’ unausweichlich
iſt — und uͤberhaupt iſt der Zeichner in der unbequemſten Stellung — und die Zuruͤſtung iſt weder
allenthalben moͤglich — noch ſimpel genug.

Jch befinde mich daher weit beſſer bey einer gefliſſentlich zu dieſem Zwecke verfertigten Seſ-
ſelrahme; wo der Schatten auf ein Poſtpapier, oder beſſer, ein zartgeoͤltes und wohl getrockne-
tes Papier faͤllt; wo man den Kopf und den Ruͤcken feſt anlehnen kann; der Schatten faͤllt aufs
Oelpapier, dieß liegt hinter dem reinen flachen Glaſe, mit einer gevierten Rahme feſtgedruͤckt, die
vermittelſt einiger kleinen Schiebergen los und feſtgemacht werden kann. Der Zeichner ſitzt hinter
dem Glaſe auf einem an dem Seſſel, der allenfalls zuſammengelegt werden kann, feſtgemachten,

dem
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[92/0120] XI. Fragment. „Was ſollte man aus einem bloßen Schattenriſſe ſehen koͤnnen?“ — hab’ ich ſchon hun- dert Menſchen fragen gehoͤrt — aber keinem Einzigen von dieſen hunderten Schattenbilder vorge- legt, die ſie nicht wenigſtens zum Theil beurtheilten — oft ſehr richtig — oft richtiger, als ich! Um die erſtaunenswuͤrdige Bedeutſamkeit eines bloßen Schattenriſſes recht anſchaubar und gewiß zu machen, darf man entweder nur die entgegengeſetzteſten Charaktere von Menſchen im Schattenbild gegen einander halten — oder noch beſſer — hoͤchſt ungleiche willkuͤhrliche Ge- ſichter aus ſchwarzem Papier ſchneiden, oder ſonſt zeichnen — oder, wenn man im Beobachten einige Uebung erlangt hat, nur z. E. ein ſchwarzes Stuͤck Papier doppelt zuſammen legen, und aus dieſem doppelten Papiere ein Geſicht ausſchneiden; denn daſſelbe auflegen und nachher die Eine Seite mit der Scheere nur ſehr wenig, dann immer mehr aͤndern, und bey jeder Aende- rung aufs neue ſein Aug’, oder vielmehr ſein Gefuͤhl fragen; oder endlich, nur von demſelben Geſichte mehrere Schattenriſſe nehmen laſſen, und dieſe vergleichen — Man wird erſtaunen, wie kleine Abweichungen den Eindruck veraͤndern — Man erinnere ſich an den Apoll im I. Theile — Beyſpiele ohne Zahl werden uns noch aufſtoßen. Jm naͤchſten Fragmente wollen wir unſere Leſer durch eine Menge bloßer Silhouetten durchfuͤhren und ſehen — was geſehen werden kann? Vorher noch nur Ein Wort von der beſten Art Silhouetten zu ziehen. Die gewoͤhnliche iſt mit vielen Unbequemlichkeiten begleitet. Die Perſon kann ſchwerlich ſtille genug ſitzen — der Zeichner iſt genoͤthigt, ſeinen Platz zu veraͤndern — er muß der Perſon ſo nahe aufs Geſicht kommen, daß eine Stoͤrung auf irgend einer Seite beynah’ unausweichlich iſt — und uͤberhaupt iſt der Zeichner in der unbequemſten Stellung — und die Zuruͤſtung iſt weder allenthalben moͤglich — noch ſimpel genug. Jch befinde mich daher weit beſſer bey einer gefliſſentlich zu dieſem Zwecke verfertigten Seſ- ſelrahme; wo der Schatten auf ein Poſtpapier, oder beſſer, ein zartgeoͤltes und wohl getrockne- tes Papier faͤllt; wo man den Kopf und den Ruͤcken feſt anlehnen kann; der Schatten faͤllt aufs Oelpapier, dieß liegt hinter dem reinen flachen Glaſe, mit einer gevierten Rahme feſtgedruͤckt, die vermittelſt einiger kleinen Schiebergen los und feſtgemacht werden kann. Der Zeichner ſitzt hinter dem Glaſe auf einem an dem Seſſel, der allenfalls zuſammengelegt werden kann, feſtgemachten, dem

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/120>, abgerufen am 26.04.2024.