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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XII. Fragment. Was sich aus bloßen
"versation ist insgemein der höchste Styl der Vernunft, und der Simplicität, wenn sie ihren
"Witz gebraucht. -- Die strengste Tugend, die aufrichtigste Liebe Gottes; Demuth und Be-
"scheidenheit im allerhöchsten Grade; daher auch im Aeussern etwas sehr Zurückhaltendes --
"gehören zu den wesentlichsten Zügen ihres Charakters. Sie ist mehrentheils traurig. Jhre Klug-
"heit ist unaussprechlich groß und verehrenswürdig. Edelmuth, Großmuth, Dienstfertigkeit,
"Dankbarkeit würken bey ihr mit jedem Athemzug, und ohne daß sie es einen merken läßt. Sie
"spricht lateinisch, wie ich deutsch, und versteht griechisch, wie ich französisch. Aus der alten und
"neuen Welt weiß sie das Wissenswürdigste. -- Die vernünftigsten Leute schätzen sie überaus
"hoch -- aber sehr wenige Menschen kennen ganz ihre stille Größe." --

Dieß ist das innere Bild, das einer der besten Menschenkenner mir von dieser Person ent-
wirft, und wie viel sieht man davon in der bloßen Silhouette! -- Jch habe kaum eine bedeuten-
dere, entscheidendere Silhouette gesehen. Alles spricht von einem Ende zum andern; und alles
spricht gerade das, was das schriftliche Zeugniß spricht.

Freylich nicht dieß alles drückt sich in der bloßen Silhouette von selbst aus -- aber auch
nichts in der Silhouette widerspricht diesem Urtheil. Das Urtheil und die Silhouette sind an
sich, und sind mit einander verglichen, gleich harmonisch. Jm Ganzen und theilweise betrachtet,
zeichnet sich das Schattenbild, dem jedoch, obwohl ich das Urbild nicht kenne, sicherlich noch
viel von der Reinheit und Schärfe desselben fehlt -- unter tausenden wieder gerade so aus,
wie das Urbild.

Der Bogen der Stirn -- das Eck des Augknochens -- besonders die tiefe Höhlung
von der Spitze dieses Knochens den Rücken der Nase hinab; selber die niedersinkende Augen-
wimper in beyden, zu ungleicher Zeit gezeichneten, Silhouetten; die Nase selbst, besonders in
3 -- wie zeugt alles mit! welche Zartheit, welche feine, tiefdenkende, fromme Erforschungsbe-
gierd' und Kraft! -- Nichts von der männlichen Stirne der obern Silhouette; -- die zwar
kaum Eine Frau in der Welt haben wird? -- Welch ein Kontrast! Männer von dem fein-
sten Scharfsinn und Forschenstriebe könnten wohl die untere Stirne haben; (ich sage nicht,
müssen sie haben) aber eine Stirn, wie die obere, scheinen nur Männer haben zu können --

und

XII. Fragment. Was ſich aus bloßen
„verſation iſt insgemein der hoͤchſte Styl der Vernunft, und der Simplicitaͤt, wenn ſie ihren
„Witz gebraucht. — Die ſtrengſte Tugend, die aufrichtigſte Liebe Gottes; Demuth und Be-
„ſcheidenheit im allerhoͤchſten Grade; daher auch im Aeuſſern etwas ſehr Zuruͤckhaltendes —
„gehoͤren zu den weſentlichſten Zuͤgen ihres Charakters. Sie iſt mehrentheils traurig. Jhre Klug-
„heit iſt unausſprechlich groß und verehrenswuͤrdig. Edelmuth, Großmuth, Dienſtfertigkeit,
„Dankbarkeit wuͤrken bey ihr mit jedem Athemzug, und ohne daß ſie es einen merken laͤßt. Sie
„ſpricht lateiniſch, wie ich deutſch, und verſteht griechiſch, wie ich franzoͤſiſch. Aus der alten und
„neuen Welt weiß ſie das Wiſſenswuͤrdigſte. — Die vernuͤnftigſten Leute ſchaͤtzen ſie uͤberaus
„hoch — aber ſehr wenige Menſchen kennen ganz ihre ſtille Groͤße.“ —

Dieß iſt das innere Bild, das einer der beſten Menſchenkenner mir von dieſer Perſon ent-
wirft, und wie viel ſieht man davon in der bloßen Silhouette! — Jch habe kaum eine bedeuten-
dere, entſcheidendere Silhouette geſehen. Alles ſpricht von einem Ende zum andern; und alles
ſpricht gerade das, was das ſchriftliche Zeugniß ſpricht.

Freylich nicht dieß alles druͤckt ſich in der bloßen Silhouette von ſelbſt aus — aber auch
nichts in der Silhouette widerſpricht dieſem Urtheil. Das Urtheil und die Silhouette ſind an
ſich, und ſind mit einander verglichen, gleich harmoniſch. Jm Ganzen und theilweiſe betrachtet,
zeichnet ſich das Schattenbild, dem jedoch, obwohl ich das Urbild nicht kenne, ſicherlich noch
viel von der Reinheit und Schaͤrfe deſſelben fehlt — unter tauſenden wieder gerade ſo aus,
wie das Urbild.

Der Bogen der Stirn — das Eck des Augknochens — beſonders die tiefe Hoͤhlung
von der Spitze dieſes Knochens den Ruͤcken der Naſe hinab; ſelber die niederſinkende Augen-
wimper in beyden, zu ungleicher Zeit gezeichneten, Silhouetten; die Naſe ſelbſt, beſonders in
3 — wie zeugt alles mit! welche Zartheit, welche feine, tiefdenkende, fromme Erforſchungsbe-
gierd’ und Kraft! — Nichts von der maͤnnlichen Stirne der obern Silhouette; — die zwar
kaum Eine Frau in der Welt haben wird? — Welch ein Kontraſt! Maͤnner von dem fein-
ſten Scharfſinn und Forſchenstriebe koͤnnten wohl die untere Stirne haben; (ich ſage nicht,
muͤſſen ſie haben) aber eine Stirn, wie die obere, ſcheinen nur Maͤnner haben zu koͤnnen —

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[112/0154] XII. Fragment. Was ſich aus bloßen „verſation iſt insgemein der hoͤchſte Styl der Vernunft, und der Simplicitaͤt, wenn ſie ihren „Witz gebraucht. — Die ſtrengſte Tugend, die aufrichtigſte Liebe Gottes; Demuth und Be- „ſcheidenheit im allerhoͤchſten Grade; daher auch im Aeuſſern etwas ſehr Zuruͤckhaltendes — „gehoͤren zu den weſentlichſten Zuͤgen ihres Charakters. Sie iſt mehrentheils traurig. Jhre Klug- „heit iſt unausſprechlich groß und verehrenswuͤrdig. Edelmuth, Großmuth, Dienſtfertigkeit, „Dankbarkeit wuͤrken bey ihr mit jedem Athemzug, und ohne daß ſie es einen merken laͤßt. Sie „ſpricht lateiniſch, wie ich deutſch, und verſteht griechiſch, wie ich franzoͤſiſch. Aus der alten und „neuen Welt weiß ſie das Wiſſenswuͤrdigſte. — Die vernuͤnftigſten Leute ſchaͤtzen ſie uͤberaus „hoch — aber ſehr wenige Menſchen kennen ganz ihre ſtille Groͤße.“ — Dieß iſt das innere Bild, das einer der beſten Menſchenkenner mir von dieſer Perſon ent- wirft, und wie viel ſieht man davon in der bloßen Silhouette! — Jch habe kaum eine bedeuten- dere, entſcheidendere Silhouette geſehen. Alles ſpricht von einem Ende zum andern; und alles ſpricht gerade das, was das ſchriftliche Zeugniß ſpricht. Freylich nicht dieß alles druͤckt ſich in der bloßen Silhouette von ſelbſt aus — aber auch nichts in der Silhouette widerſpricht dieſem Urtheil. Das Urtheil und die Silhouette ſind an ſich, und ſind mit einander verglichen, gleich harmoniſch. Jm Ganzen und theilweiſe betrachtet, zeichnet ſich das Schattenbild, dem jedoch, obwohl ich das Urbild nicht kenne, ſicherlich noch viel von der Reinheit und Schaͤrfe deſſelben fehlt — unter tauſenden wieder gerade ſo aus, wie das Urbild. Der Bogen der Stirn — das Eck des Augknochens — beſonders die tiefe Hoͤhlung von der Spitze dieſes Knochens den Ruͤcken der Naſe hinab; ſelber die niederſinkende Augen- wimper in beyden, zu ungleicher Zeit gezeichneten, Silhouetten; die Naſe ſelbſt, beſonders in 3 — wie zeugt alles mit! welche Zartheit, welche feine, tiefdenkende, fromme Erforſchungsbe- gierd’ und Kraft! — Nichts von der maͤnnlichen Stirne der obern Silhouette; — die zwar kaum Eine Frau in der Welt haben wird? — Welch ein Kontraſt! Maͤnner von dem fein- ſten Scharfſinn und Forſchenstriebe koͤnnten wohl die untere Stirne haben; (ich ſage nicht, muͤſſen ſie haben) aber eine Stirn, wie die obere, ſcheinen nur Maͤnner haben zu koͤnnen — und

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/154>, abgerufen am 26.04.2024.