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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Frauenspersonen.
Tugend; feine tiefgedrückte Empfindsamkeit; Frömmigkeit mit Schwung edler Schwärmerey! ..
Stilles Mondenlicht und Mitternacht füllt dieß Herz mit Gottesruhe ... Viel Eleganz und Sim-
plizität in einander geschmolzen! -- Der höchste Ausdruck von Herzensgeistigkeit -- ist vom Augen-
knochen bis unter die bedeutungsvolle Augenwimper. Der ganze untere Theil dieses Gesichtes, ver-
glichen mit dem vorüberstehenden -- hat viel mehr Klugheit und planmachende Ueberlegung. Wäre
sie ausgedehnter -- wie viel schwächer würde der Eindruck von feiner Klugheit seyn!

Vierzehntes Fragment.
Louisa Karschinn und eine englische Dame.
Des III.
Bandes
LXXXVIII.
Tafel. E. D.

"Lieber keine Verse machen, als so aussehen!" -- Jch bin mit meinem bißchen Phy-
siognomik viel toleranter und gelinder geworden! Nein! "lieber so aussehen, und
"Verse machen" -- denn wahrlich, das Gesicht ist doch, man mag gegen die Schön-
heit einwenden, was man will, äußerst geistreich, und zwar nicht nur das ganz außerordentlich helle,
funkelnde, theilnehmende Seherauge -- auch die, wie man sagt, häßliche Nase! Besonders der
Mund -- wie auch alle das übrige Muskeln- und Schattenspiel; nicht zu vergessen den ganzen Um-
riß von der Haarlocke auf der hohen männlichen Stirn an bis zum beinernen Kinne -- weiter
nicht. Besonders in der Gegend zwischen der Nase nnd Unterlippe schwebt unbeschreiblich viel Geist.

Die Poesie als Poesie scheint ihren Sitz in den Augen dieses Gesichtes zu haben -- Sonst
ist die ganze Form des Kopfes, wenigstens der Stirn und der Nase, mehr des kaltforschenden Den-
kers -- und, wer weiß -- vielleicht hätte sie, die Karschinn, noch mehr Philosophinn, als Dichte-
rinn werden können. -- Noch ein Wort von der Stellung; sie ist die glücklichste, wahreste, und
für solche Gesichter die physiognomischste, die sich gedenken läßt.

Das zweyte Bild -- eine mir unbekannte englische Dame -- die in der dritten Copie un-
ausstehlich für mein Auge geworden ist; so bezaubernd das Original war! so viel Schiefheit und
süßes Wesen hat die erhabene Gestalt beynahe zu einer gemeinen Schönheit herabgewürdigt -- und
dennoch wie viel ist noch übrig geblieben von Offenheit der Seele in der Stirne! von Größe der

Seele
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Frauensperſonen.
Tugend; feine tiefgedruͤckte Empfindſamkeit; Froͤmmigkeit mit Schwung edler Schwaͤrmerey! ..
Stilles Mondenlicht und Mitternacht fuͤllt dieß Herz mit Gottesruhe ... Viel Eleganz und Sim-
plizitaͤt in einander geſchmolzen! — Der hoͤchſte Ausdruck von Herzensgeiſtigkeit — iſt vom Augen-
knochen bis unter die bedeutungsvolle Augenwimper. Der ganze untere Theil dieſes Geſichtes, ver-
glichen mit dem voruͤberſtehenden — hat viel mehr Klugheit und planmachende Ueberlegung. Waͤre
ſie ausgedehnter — wie viel ſchwaͤcher wuͤrde der Eindruck von feiner Klugheit ſeyn!

Vierzehntes Fragment.
Louiſa Karſchinn und eine engliſche Dame.
Des III.
Bandes
LXXXVIII.
Tafel. E. D.

Lieber keine Verſe machen, als ſo ausſehen!“ — Jch bin mit meinem bißchen Phy-
ſiognomik viel toleranter und gelinder geworden! Nein! „lieber ſo ausſehen, und
„Verſe machen“ — denn wahrlich, das Geſicht iſt doch, man mag gegen die Schoͤn-
heit einwenden, was man will, aͤußerſt geiſtreich, und zwar nicht nur das ganz außerordentlich helle,
funkelnde, theilnehmende Seherauge — auch die, wie man ſagt, haͤßliche Naſe! Beſonders der
Mund — wie auch alle das uͤbrige Muskeln- und Schattenſpiel; nicht zu vergeſſen den ganzen Um-
riß von der Haarlocke auf der hohen maͤnnlichen Stirn an bis zum beinernen Kinne — weiter
nicht. Beſonders in der Gegend zwiſchen der Naſe nnd Unterlippe ſchwebt unbeſchreiblich viel Geiſt.

Die Poeſie als Poeſie ſcheint ihren Sitz in den Augen dieſes Geſichtes zu haben — Sonſt
iſt die ganze Form des Kopfes, wenigſtens der Stirn und der Naſe, mehr des kaltforſchenden Den-
kers — und, wer weiß — vielleicht haͤtte ſie, die Karſchinn, noch mehr Philoſophinn, als Dichte-
rinn werden koͤnnen. — Noch ein Wort von der Stellung; ſie iſt die gluͤcklichſte, wahreſte, und
fuͤr ſolche Geſichter die phyſiognomiſchſte, die ſich gedenken laͤßt.

Das zweyte Bild — eine mir unbekannte engliſche Dame — die in der dritten Copie un-
ausſtehlich fuͤr mein Auge geworden iſt; ſo bezaubernd das Original war! ſo viel Schiefheit und
ſuͤßes Weſen hat die erhabene Geſtalt beynahe zu einer gemeinen Schoͤnheit herabgewuͤrdigt — und
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[315/0507] Frauensperſonen. Tugend; feine tiefgedruͤckte Empfindſamkeit; Froͤmmigkeit mit Schwung edler Schwaͤrmerey! .. Stilles Mondenlicht und Mitternacht fuͤllt dieß Herz mit Gottesruhe ... Viel Eleganz und Sim- plizitaͤt in einander geſchmolzen! — Der hoͤchſte Ausdruck von Herzensgeiſtigkeit — iſt vom Augen- knochen bis unter die bedeutungsvolle Augenwimper. Der ganze untere Theil dieſes Geſichtes, ver- glichen mit dem voruͤberſtehenden — hat viel mehr Klugheit und planmachende Ueberlegung. Waͤre ſie ausgedehnter — wie viel ſchwaͤcher wuͤrde der Eindruck von feiner Klugheit ſeyn! Vierzehntes Fragment. Louiſa Karſchinn und eine engliſche Dame. „Lieber keine Verſe machen, als ſo ausſehen!“ — Jch bin mit meinem bißchen Phy- ſiognomik viel toleranter und gelinder geworden! Nein! „lieber ſo ausſehen, und „Verſe machen“ — denn wahrlich, das Geſicht iſt doch, man mag gegen die Schoͤn- heit einwenden, was man will, aͤußerſt geiſtreich, und zwar nicht nur das ganz außerordentlich helle, funkelnde, theilnehmende Seherauge — auch die, wie man ſagt, haͤßliche Naſe! Beſonders der Mund — wie auch alle das uͤbrige Muskeln- und Schattenſpiel; nicht zu vergeſſen den ganzen Um- riß von der Haarlocke auf der hohen maͤnnlichen Stirn an bis zum beinernen Kinne — weiter nicht. Beſonders in der Gegend zwiſchen der Naſe nnd Unterlippe ſchwebt unbeſchreiblich viel Geiſt. Die Poeſie als Poeſie ſcheint ihren Sitz in den Augen dieſes Geſichtes zu haben — Sonſt iſt die ganze Form des Kopfes, wenigſtens der Stirn und der Naſe, mehr des kaltforſchenden Den- kers — und, wer weiß — vielleicht haͤtte ſie, die Karſchinn, noch mehr Philoſophinn, als Dichte- rinn werden koͤnnen. — Noch ein Wort von der Stellung; ſie iſt die gluͤcklichſte, wahreſte, und fuͤr ſolche Geſichter die phyſiognomiſchſte, die ſich gedenken laͤßt. Das zweyte Bild — eine mir unbekannte engliſche Dame — die in der dritten Copie un- ausſtehlich fuͤr mein Auge geworden iſt; ſo bezaubernd das Original war! ſo viel Schiefheit und ſuͤßes Weſen hat die erhabene Geſtalt beynahe zu einer gemeinen Schoͤnheit herabgewuͤrdigt — und dennoch wie viel iſt noch uͤbrig geblieben von Offenheit der Seele in der Stirne! von Groͤße der Seele R r 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/507>, abgerufen am 26.04.2024.