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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Vom Einflusse der Physiognomien etc. Beylage. Zwey Profilumrisse.

1) Gesicht eines Hypochondristen, der durch Kummer und Gram beynahe unkenntlich wur-
de. Seine Augen vertieften sich, sahen halb starr; die Nasenläppchen zogen sich herauf; die Enden
der Lippen sanken herab; die Backen wurden hohler; zwey Perpendikularlineamente zwischen den Au-
genbraunen über der Nase wurden stärker; daraus entstanden einige Queerrunzeln auf der Stirne;
die Augenbraunen zogen sich herunter. Kurz, alle Züge wurden stärker, als vorher, und blieben
lange in dieser Adstringenz.

2) Die Gattinn dieses Mannes. Diese bedauerte seinen Zustand -- war voll von Liebe ge-
gen ihn, so wie er's auch gegen sie war -- daß sie immer am Tische gerade vor ihm über saß -- ihn
immer mit Blicken des Mitleidens ansah, und mit der Aufmerksamkeit der Liebe jeden Zug, jede
Veränderung, jeden Schein von Besserung und Verschlimmerung bemerkte, und mit geiziger Theil-
nehmung gleichsam in sich hinein verschlang. Sie wußte durch diese Uebungen im Beobachten seiner,
genau, was in seinem Jnnersten vorgieng -- Kein Stral von Aufheiterung, kein vorübergehendes
Wölkgen entgieng dem Scharfblick ihrer sorgsamen Liebe. Die Fortdauer seines Kummers drückte
sie so, daß sie gleichsam zum Empfange und zur Aufnahme desselben in sich, sich selbst ihm öffnete.
Durch dieß Anschauen und Theilnehmen -- fieng ihre Physiognomie nach und nach an, der seinigen
ähnlich zu werden -- Und was geschah? Sie verfiel in die nämliche Krankheit -- wurde aber durch
gute Behandlung bald wieder curirt; die scharfen Züge wurden wieder sanfter; die Heiterkeit kam
wieder; mit ihrem Geliebten fieng's auch an sich zu bessern; sie fühlt' es, und ihre von ihm angenom-
menen Lineamente verschwanden bis auf wenige zurückgelassene Spuren. Beyde wurden wieder voll-
kommen gesund, daß sie innerhalb einem Jahre noch einen Sohn bekamen, der beyden Aeltern ziem-
lich ähnlich war.

Und hier stießen wir nun auf einige große physiognomische Capitel -- das: von der Aehn-
lichkeit der Aeltern und Kinder
-- und das vom Einflusse der Einbildungskraft auf unsre
eigne und unserer Kinder Physiognomie;
und das von Muttermählern und Mißgeburten.

Capitel -- wovon ich auch nicht einmal Fragmente liefern kann. Noch habe ich keine ge-
naue, fortgesetzte Beobachtungen darüber gemacht. Das wenige, was ich darüber sagen kann --
sey dem folgenden Fragmentchen vorbehalten. Vielleicht besser unten noch Ein Wort von Fa-
milienähnlichkeit.

Sechstes
Vom Einfluſſe der Phyſiognomien ꝛc. Beylage. Zwey Profilumriſſe.

1) Geſicht eines Hypochondriſten, der durch Kummer und Gram beynahe unkenntlich wur-
de. Seine Augen vertieften ſich, ſahen halb ſtarr; die Naſenlaͤppchen zogen ſich herauf; die Enden
der Lippen ſanken herab; die Backen wurden hohler; zwey Perpendikularlineamente zwiſchen den Au-
genbraunen uͤber der Naſe wurden ſtaͤrker; daraus entſtanden einige Queerrunzeln auf der Stirne;
die Augenbraunen zogen ſich herunter. Kurz, alle Zuͤge wurden ſtaͤrker, als vorher, und blieben
lange in dieſer Adſtringenz.

2) Die Gattinn dieſes Mannes. Dieſe bedauerte ſeinen Zuſtand — war voll von Liebe ge-
gen ihn, ſo wie er’s auch gegen ſie war — daß ſie immer am Tiſche gerade vor ihm uͤber ſaß — ihn
immer mit Blicken des Mitleidens anſah, und mit der Aufmerkſamkeit der Liebe jeden Zug, jede
Veraͤnderung, jeden Schein von Beſſerung und Verſchlimmerung bemerkte, und mit geiziger Theil-
nehmung gleichſam in ſich hinein verſchlang. Sie wußte durch dieſe Uebungen im Beobachten ſeiner,
genau, was in ſeinem Jnnerſten vorgieng — Kein Stral von Aufheiterung, kein voruͤbergehendes
Woͤlkgen entgieng dem Scharfblick ihrer ſorgſamen Liebe. Die Fortdauer ſeines Kummers druͤckte
ſie ſo, daß ſie gleichſam zum Empfange und zur Aufnahme deſſelben in ſich, ſich ſelbſt ihm oͤffnete.
Durch dieß Anſchauen und Theilnehmen — fieng ihre Phyſiognomie nach und nach an, der ſeinigen
aͤhnlich zu werden — Und was geſchah? Sie verfiel in die naͤmliche Krankheit — wurde aber durch
gute Behandlung bald wieder curirt; die ſcharfen Zuͤge wurden wieder ſanfter; die Heiterkeit kam
wieder; mit ihrem Geliebten fieng’s auch an ſich zu beſſern; ſie fuͤhlt’ es, und ihre von ihm angenom-
menen Lineamente verſchwanden bis auf wenige zuruͤckgelaſſene Spuren. Beyde wurden wieder voll-
kommen geſund, daß ſie innerhalb einem Jahre noch einen Sohn bekamen, der beyden Aeltern ziem-
lich aͤhnlich war.

Und hier ſtießen wir nun auf einige große phyſiognomiſche Capitel — das: von der Aehn-
lichkeit der Aeltern und Kinder
— und das vom Einfluſſe der Einbildungskraft auf unſre
eigne und unſerer Kinder Phyſiognomie;
und das von Muttermaͤhlern und Mißgeburten.

Capitel — wovon ich auch nicht einmal Fragmente liefern kann. Noch habe ich keine ge-
naue, fortgeſetzte Beobachtungen daruͤber gemacht. Das wenige, was ich daruͤber ſagen kann —
ſey dem folgenden Fragmentchen vorbehalten. Vielleicht beſſer unten noch Ein Wort von Fa-
milienaͤhnlichkeit.

Sechstes
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[63/0089] Vom Einfluſſe der Phyſiognomien ꝛc. Beylage. Zwey Profilumriſſe. 1) Geſicht eines Hypochondriſten, der durch Kummer und Gram beynahe unkenntlich wur- de. Seine Augen vertieften ſich, ſahen halb ſtarr; die Naſenlaͤppchen zogen ſich herauf; die Enden der Lippen ſanken herab; die Backen wurden hohler; zwey Perpendikularlineamente zwiſchen den Au- genbraunen uͤber der Naſe wurden ſtaͤrker; daraus entſtanden einige Queerrunzeln auf der Stirne; die Augenbraunen zogen ſich herunter. Kurz, alle Zuͤge wurden ſtaͤrker, als vorher, und blieben lange in dieſer Adſtringenz. 2) Die Gattinn dieſes Mannes. Dieſe bedauerte ſeinen Zuſtand — war voll von Liebe ge- gen ihn, ſo wie er’s auch gegen ſie war — daß ſie immer am Tiſche gerade vor ihm uͤber ſaß — ihn immer mit Blicken des Mitleidens anſah, und mit der Aufmerkſamkeit der Liebe jeden Zug, jede Veraͤnderung, jeden Schein von Beſſerung und Verſchlimmerung bemerkte, und mit geiziger Theil- nehmung gleichſam in ſich hinein verſchlang. Sie wußte durch dieſe Uebungen im Beobachten ſeiner, genau, was in ſeinem Jnnerſten vorgieng — Kein Stral von Aufheiterung, kein voruͤbergehendes Woͤlkgen entgieng dem Scharfblick ihrer ſorgſamen Liebe. Die Fortdauer ſeines Kummers druͤckte ſie ſo, daß ſie gleichſam zum Empfange und zur Aufnahme deſſelben in ſich, ſich ſelbſt ihm oͤffnete. Durch dieß Anſchauen und Theilnehmen — fieng ihre Phyſiognomie nach und nach an, der ſeinigen aͤhnlich zu werden — Und was geſchah? Sie verfiel in die naͤmliche Krankheit — wurde aber durch gute Behandlung bald wieder curirt; die ſcharfen Zuͤge wurden wieder ſanfter; die Heiterkeit kam wieder; mit ihrem Geliebten fieng’s auch an ſich zu beſſern; ſie fuͤhlt’ es, und ihre von ihm angenom- menen Lineamente verſchwanden bis auf wenige zuruͤckgelaſſene Spuren. Beyde wurden wieder voll- kommen geſund, daß ſie innerhalb einem Jahre noch einen Sohn bekamen, der beyden Aeltern ziem- lich aͤhnlich war. Und hier ſtießen wir nun auf einige große phyſiognomiſche Capitel — das: von der Aehn- lichkeit der Aeltern und Kinder — und das vom Einfluſſe der Einbildungskraft auf unſre eigne und unſerer Kinder Phyſiognomie; und das von Muttermaͤhlern und Mißgeburten. Capitel — wovon ich auch nicht einmal Fragmente liefern kann. Noch habe ich keine ge- naue, fortgeſetzte Beobachtungen daruͤber gemacht. Das wenige, was ich daruͤber ſagen kann — ſey dem folgenden Fragmentchen vorbehalten. Vielleicht beſſer unten noch Ein Wort von Fa- milienaͤhnlichkeit. Sechstes

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/89>, abgerufen am 26.04.2024.