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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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Nun ist es wahr, daß dieses eigentlich keinen
falschen Sinn macht; aber es erschöpft doch
auch den Sinn des Aristoteles hier nicht. Nicht
genug, daß die Poesie, ungeachtet der von ein-
zeln Personen genommenen Namen, auf das
Allgemeine gehen kann: Aristoteles sagt, daß
sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine
ziele, ou' stokhazetai. Jch sollte doch wohl mei-
nen, daß beides nicht einerley wäre. Jst es
aber nicht einerley: so geräth man nothwendig
auf die Frage; wie zielt sie darauf? Und auf
diese Frage antworten die Ausleger nichts.

Ham-
& dire en cet etat, ou par necessite, ou au
moins selon les regles de la vraisemblance;
ce qui prouve incontestablement que ce
sont des actions generales & universelles.

Nichts anders sagt auch Herr Curtius in sei-
ner Anmerkung; nur daß er das Allgemeine
und Einzelne noch an Beyspielen zeigen wol-
len, die aber nicht so recht beweisen, daß er
auf den Grund der Sache gekommen. Denn
ihnen zu Folge würden es nur personifirte
Charaktere seyn, welche der Dichter reden
und handeln ließe: da es doch charakterisirte
Personen seyn sollen.

Nun iſt es wahr, daß dieſes eigentlich keinen
falſchen Sinn macht; aber es erſchöpft doch
auch den Sinn des Ariſtoteles hier nicht. Nicht
genug, daß die Poeſie, ungeachtet der von ein-
zeln Perſonen genommenen Namen, auf das
Allgemeine gehen kann: Ariſtoteles ſagt, daß
ſie mit dieſen Namen ſelbſt auf das Allgemeine
ziele, ου᾽ ϛοχαζεται. Jch ſollte doch wohl mei-
nen, daß beides nicht einerley wäre. Jſt es
aber nicht einerley: ſo geräth man nothwendig
auf die Frage; wie zielt ſie darauf? Und auf
dieſe Frage antworten die Ausleger nichts.

Ham-
& dire en cet etat, ou par neceſsité, ou au
moins ſelon les regles de la vraiſemblance;
ce qui prouve inconteſtablement que ce
ſont des actions generales & univerſelles.

Nichts anders ſagt auch Herr Curtius in ſei-
ner Anmerkung; nur daß er das Allgemeine
und Einzelne noch an Beyſpielen zeigen wol-
len, die aber nicht ſo recht beweiſen, daß er
auf den Grund der Sache gekommen. Denn
ihnen zu Folge würden es nur perſonifirte
Charaktere ſeyn, welche der Dichter reden
und handeln ließe: da es doch charakteriſirte
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[296/0302] Nun iſt es wahr, daß dieſes eigentlich keinen falſchen Sinn macht; aber es erſchöpft doch auch den Sinn des Ariſtoteles hier nicht. Nicht genug, daß die Poeſie, ungeachtet der von ein- zeln Perſonen genommenen Namen, auf das Allgemeine gehen kann: Ariſtoteles ſagt, daß ſie mit dieſen Namen ſelbſt auf das Allgemeine ziele, ου᾽ ϛοχαζεται. Jch ſollte doch wohl mei- nen, daß beides nicht einerley wäre. Jſt es aber nicht einerley: ſo geräth man nothwendig auf die Frage; wie zielt ſie darauf? Und auf dieſe Frage antworten die Ausleger nichts. Ham- (*) (*) & dire en cet etat, ou par neceſsité, ou au moins ſelon les regles de la vraiſemblance; ce qui prouve inconteſtablement que ce ſont des actions generales & univerſelles. Nichts anders ſagt auch Herr Curtius in ſei- ner Anmerkung; nur daß er das Allgemeine und Einzelne noch an Beyſpielen zeigen wol- len, die aber nicht ſo recht beweiſen, daß er auf den Grund der Sache gekommen. Denn ihnen zu Folge würden es nur perſonifirte Charaktere ſeyn, welche der Dichter reden und handeln ließe: da es doch charakteriſirte Perſonen ſeyn ſollen.

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/302>, abgerufen am 26.04.2024.