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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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für die Türkei gegen Rußland das Schwert zu ziehen, so fehlt ihm
doch die Macht, seine Absicht zu verwirklichen; es mag den Willen
haben, aber es hat nicht die Kraft zu handeln, und das Bewußtsein
der Aktionsunfähigkeit wird im letzten Moment selbst vor dem schwäch-
lichsten Versuch der Aktion zurückschrecken lassen. Und überdies ist
England in sich gespalten, die öffentliche Meinung ist dem Krieg ent-
schieden abgeneigt." -- Und man zitirt Gladstone und Genossen. Nun,
was diese Herren und deren "Bewegung" anlangt, so haben wir unseren
neulichen Ausführungen nichts hinzuzufügen. Die bloße Ankündigung
der in den letzten englischen Ministerräthen beschlossenen Maßregeln hat
genügt, den Gladstone-Humbug in das Reich des Lächerlichen zu ver-
weisen. Die Wahrheit ist: das ganze englische Volk, mit Ausnahme
einer Handvoll "vaterlandsloser" Bourgeois, denen es, gleich
unseren Herrn Bourgeois, ganz einerlei ist, ob in ihrem "Vaterland"
der Kantschu herrscht oder nicht, vorausgesetzt, daß ihr Ausbeutungs-
geschäft nicht gestört wird -- mit Ausnahme dieser "vaterlandslosen"
Bourgeois und ihrer Dupes (der von ihnen Geprellten), in Summa
ein paar Tausend Jndividuen, giebt es in England keinen erwachsenen
Menschen, der es nicht für die Pflicht und das Lebensinteresse Englands
hielte, die Zertrümmerung der Türkei durch Rußland unter keiner Be-
dingung zu dulden, und erforderlichen Falls mit gewaffneter Hand den
moskowitischen Eroberern entgegenzutreten.

Doch England soll nicht die nöthige Macht haben! Es ist richtig,
England ist keine Militärmacht ersten Ranges; es kann nicht im Hand-
umdrehen Armeen von einer halben, ja einer ganzen Million in's Feld
schicken wie leider gewisse Staaten des Kontinents. Allein immerhin ist
es, selbst nach deutschen Generalstabs-Begriffen, eine Militärmacht von
nicht zu unterschätzender Bedeutung und mit Leichtigkeit im Stande, auf
den Kriegsschauplatz so viel Truppen zu werfen, daß das Machtverhält-
niß zu Gunsten zur Türkei verschoben wird. Dazu kämen die Subsidien
(Geldzuschüsse) der Hebung der aus Mangel an Geld jetzt zum großen
Theil brach liegenden militärischen Hilfsquellen der Türkei, und die
nicht zu unterschätzenden Dienste der englischen Flotte. Und ist denn
etwa Rußland eine Militärmacht ersten Ranges?
Hat etwa
die russische Militärorganisation sich nicht erbärmlich gezeigt?
Haben die russischen Feldherren -- den einen Totleben vielleicht
ausgenommen, obgleich es kein Kunststück ist, einen von 120,000 Mann
umringten Heerkörper von 30,000 Mann trotz vierfacher Uebermacht
blos durch Hunger zu bezwingen -- haben die russischen Feld-
herrn
sich nicht skandalös unfähig gezeigt? Hat es sich etwa nicht
gezeigt, daß die russischen Soldaten individuell den türkischen nicht
gewachsen sind? Kurz ist das russische "Prestige", der mili-

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für die Türkei gegen Rußland das Schwert zu ziehen, ſo fehlt ihm
doch die Macht, ſeine Abſicht zu verwirklichen; es mag den Willen
haben, aber es hat nicht die Kraft zu handeln, und das Bewußtſein
der Aktionsunfähigkeit wird im letzten Moment ſelbſt vor dem ſchwäch-
lichſten Verſuch der Aktion zurückſchrecken laſſen. Und überdies iſt
England in ſich geſpalten, die öffentliche Meinung iſt dem Krieg ent-
ſchieden abgeneigt.‟ — Und man zitirt Gladſtone und Genoſſen. Nun,
was dieſe Herren und deren „Bewegung‟ anlangt, ſo haben wir unſeren
neulichen Ausführungen nichts hinzuzufügen. Die bloße Ankündigung
der in den letzten engliſchen Miniſterräthen beſchloſſenen Maßregeln hat
genügt, den Gladſtone-Humbug in das Reich des Lächerlichen zu ver-
weiſen. Die Wahrheit iſt: das ganze engliſche Volk, mit Ausnahme
einer Handvoll „vaterlandsloſer‟ Bourgeois, denen es, gleich
unſeren Herrn Bourgeois, ganz einerlei iſt, ob in ihrem „Vaterland‟
der Kantſchu herrſcht oder nicht, vorausgeſetzt, daß ihr Ausbeutungs-
geſchäft nicht geſtört wird — mit Ausnahme dieſer „vaterlandsloſen‟
Bourgeois und ihrer Dupes (der von ihnen Geprellten), in Summa
ein paar Tauſend Jndividuen, giebt es in England keinen erwachſenen
Menſchen, der es nicht für die Pflicht und das Lebensintereſſe Englands
hielte, die Zertrümmerung der Türkei durch Rußland unter keiner Be-
dingung zu dulden, und erforderlichen Falls mit gewaffneter Hand den
moskowitiſchen Eroberern entgegenzutreten.

Doch England ſoll nicht die nöthige Macht haben! Es iſt richtig,
England iſt keine Militärmacht erſten Ranges; es kann nicht im Hand-
umdrehen Armeen von einer halben, ja einer ganzen Million in’s Feld
ſchicken wie leider gewiſſe Staaten des Kontinents. Allein immerhin iſt
es, ſelbſt nach deutſchen Generalſtabs-Begriffen, eine Militärmacht von
nicht zu unterſchätzender Bedeutung und mit Leichtigkeit im Stande, auf
den Kriegsſchauplatz ſo viel Truppen zu werfen, daß das Machtverhält-
niß zu Gunſten zur Türkei verſchoben wird. Dazu kämen die Subſidien
(Geldzuſchüſſe) der Hebung der aus Mangel an Geld jetzt zum großen
Theil brach liegenden militäriſchen Hilfsquellen der Türkei, und die
nicht zu unterſchätzenden Dienſte der engliſchen Flotte. Und iſt denn
etwa Rußland eine Militärmacht erſten Ranges?
Hat etwa
die ruſſiſche Militärorganiſation ſich nicht erbärmlich gezeigt?
Haben die ruſſiſchen Feldherren — den einen Totleben vielleicht
ausgenommen, obgleich es kein Kunſtſtück iſt, einen von 120,000 Mann
umringten Heerkörper von 30,000 Mann trotz vierfacher Uebermacht
blos durch Hunger zu bezwingen — haben die ruſſiſchen Feld-
herrn
ſich nicht ſkandalös unfähig gezeigt? Hat es ſich etwa nicht
gezeigt, daß die ruſſiſchen Soldaten individuell den türkiſchen nicht
gewachſen ſind? Kurz iſt das ruſſiſche „Preſtige‟, der mili-

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[33/0037] für die Türkei gegen Rußland das Schwert zu ziehen, ſo fehlt ihm doch die Macht, ſeine Abſicht zu verwirklichen; es mag den Willen haben, aber es hat nicht die Kraft zu handeln, und das Bewußtſein der Aktionsunfähigkeit wird im letzten Moment ſelbſt vor dem ſchwäch- lichſten Verſuch der Aktion zurückſchrecken laſſen. Und überdies iſt England in ſich geſpalten, die öffentliche Meinung iſt dem Krieg ent- ſchieden abgeneigt.‟ — Und man zitirt Gladſtone und Genoſſen. Nun, was dieſe Herren und deren „Bewegung‟ anlangt, ſo haben wir unſeren neulichen Ausführungen nichts hinzuzufügen. Die bloße Ankündigung der in den letzten engliſchen Miniſterräthen beſchloſſenen Maßregeln hat genügt, den Gladſtone-Humbug in das Reich des Lächerlichen zu ver- weiſen. Die Wahrheit iſt: das ganze engliſche Volk, mit Ausnahme einer Handvoll „vaterlandsloſer‟ Bourgeois, denen es, gleich unſeren Herrn Bourgeois, ganz einerlei iſt, ob in ihrem „Vaterland‟ der Kantſchu herrſcht oder nicht, vorausgeſetzt, daß ihr Ausbeutungs- geſchäft nicht geſtört wird — mit Ausnahme dieſer „vaterlandsloſen‟ Bourgeois und ihrer Dupes (der von ihnen Geprellten), in Summa ein paar Tauſend Jndividuen, giebt es in England keinen erwachſenen Menſchen, der es nicht für die Pflicht und das Lebensintereſſe Englands hielte, die Zertrümmerung der Türkei durch Rußland unter keiner Be- dingung zu dulden, und erforderlichen Falls mit gewaffneter Hand den moskowitiſchen Eroberern entgegenzutreten. Doch England ſoll nicht die nöthige Macht haben! Es iſt richtig, England iſt keine Militärmacht erſten Ranges; es kann nicht im Hand- umdrehen Armeen von einer halben, ja einer ganzen Million in’s Feld ſchicken wie leider gewiſſe Staaten des Kontinents. Allein immerhin iſt es, ſelbſt nach deutſchen Generalſtabs-Begriffen, eine Militärmacht von nicht zu unterſchätzender Bedeutung und mit Leichtigkeit im Stande, auf den Kriegsſchauplatz ſo viel Truppen zu werfen, daß das Machtverhält- niß zu Gunſten zur Türkei verſchoben wird. Dazu kämen die Subſidien (Geldzuſchüſſe) der Hebung der aus Mangel an Geld jetzt zum großen Theil brach liegenden militäriſchen Hilfsquellen der Türkei, und die nicht zu unterſchätzenden Dienſte der engliſchen Flotte. Und iſt denn etwa Rußland eine Militärmacht erſten Ranges? Hat etwa die ruſſiſche Militärorganiſation ſich nicht erbärmlich gezeigt? Haben die ruſſiſchen Feldherren — den einen Totleben vielleicht ausgenommen, obgleich es kein Kunſtſtück iſt, einen von 120,000 Mann umringten Heerkörper von 30,000 Mann trotz vierfacher Uebermacht blos durch Hunger zu bezwingen — haben die ruſſiſchen Feld- herrn ſich nicht ſkandalös unfähig gezeigt? Hat es ſich etwa nicht gezeigt, daß die ruſſiſchen Soldaten individuell den türkiſchen nicht gewachſen ſind? Kurz iſt das ruſſiſche „Preſtige‟, der mili- 3

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/37>, abgerufen am 26.04.2024.