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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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§ 7. Die Souveränität als äussere Selbständigkeit.
Anerkennung, die, wenn sie dennoch erfolgt, nur deklaratorische
Bedeutung hat oder als Einzeldurchführung des selbstverständlichen
Grundsatzes erscheint. Sie sind nur die logischen Folgen aus dem
Begriff der Souveränität und daher mit dem Begriff des Staates
als eines völkerrechtlichen Rechtssubjektes ohne weiteres gegeben;
so dass man sie auch als völkerrechtliche "Persönlichkeits-
rechte
" bezeichnet hat (Heilborn).

Es empfiehlt sich nicht, von einem besonderen "Recht der
Selbsterhaltung" (droit de conservation) zu sprechen, da dieses
doch nur im Falle des Notstandes (unten § 24 III) zu Eingriffen
in fremde Rechte berechtigt.

Pillet, R. G. V 66.

Stoerk, 1291.

Heilborn, 280.

2. Durch die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Mitglieder
der völkerrechtlichen Gemeinschaft, die sich insbesondere auf den
Staatenkongressen in dem gleichen Stimmrecht aller Beteiligten und
dem Erfordernis der Stimmeneinhelligkeit bei allen Beschlüssen
äussert, wird die thatsächliche Vorherrschaft einzelner von ihnen
nicht ausgeschlossen. Man denke an die thatsächliche Stellung der
europäischen Grossmächte (das "Europäische Konzert").

II.

Aus der Pflicht jedes Staates, die Selbständigkeit aller
übrigen Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft zu achten, er-
giebt sich:

1. Jeder Staat hat nicht nur jedes Angriffs auf die äussere
Existenz jedes andern Staates sich zu enthalten, sondern auch dafür
Sorge zu tragen, dass auf dem von ihm beherrschten Gebiet kein
solcher Angriff von seinen Staatsangehörigen oder von Staatsfremden
vorbereitet oder unternommen werde.

Italien würde mithin seinen völkerrechtlichen Pflichten zu-
widerhandeln, wenn es den Bestrebungen der Italia irridenta, die
auf Losreissung eines Teils des österreichischen Gebietes gerichtet
sind, nicht entgegentreten wollte. Ebenso Rumänien gegenüber
seinen "unerlösten" Stammesgenossen. Und es fragt sich, ob das
Verhalten Englands, das nicht nur den Verschwörern aller Länder

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§ 7. Die Souveränität als äuſsere Selbständigkeit.
Anerkennung, die, wenn sie dennoch erfolgt, nur deklaratorische
Bedeutung hat oder als Einzeldurchführung des selbstverständlichen
Grundsatzes erscheint. Sie sind nur die logischen Folgen aus dem
Begriff der Souveränität und daher mit dem Begriff des Staates
als eines völkerrechtlichen Rechtssubjektes ohne weiteres gegeben;
so daſs man sie auch als völkerrechtliche „Persönlichkeits-
rechte
“ bezeichnet hat (Heilborn).

Es empfiehlt sich nicht, von einem besonderen „Recht der
Selbsterhaltung“ (droit de conservation) zu sprechen, da dieses
doch nur im Falle des Notstandes (unten § 24 III) zu Eingriffen
in fremde Rechte berechtigt.

Pillet, R. G. V 66.

Stoerk, 1291.

Heilborn, 280.

2. Durch die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Mitglieder
der völkerrechtlichen Gemeinschaft, die sich insbesondere auf den
Staatenkongressen in dem gleichen Stimmrecht aller Beteiligten und
dem Erfordernis der Stimmeneinhelligkeit bei allen Beschlüssen
äuſsert, wird die thatsächliche Vorherrschaft einzelner von ihnen
nicht ausgeschlossen. Man denke an die thatsächliche Stellung der
europäischen Groſsmächte (das „Europäische Konzert“).

II.

Aus der Pflicht jedes Staates, die Selbständigkeit aller
übrigen Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft zu achten, er-
giebt sich:

1. Jeder Staat hat nicht nur jedes Angriffs auf die äuſsere
Existenz jedes andern Staates sich zu enthalten, sondern auch dafür
Sorge zu tragen, daſs auf dem von ihm beherrschten Gebiet kein
solcher Angriff von seinen Staatsangehörigen oder von Staatsfremden
vorbereitet oder unternommen werde.

Italien würde mithin seinen völkerrechtlichen Pflichten zu-
widerhandeln, wenn es den Bestrebungen der Italia irridenta, die
auf Losreiſsung eines Teils des österreichischen Gebietes gerichtet
sind, nicht entgegentreten wollte. Ebenso Rumänien gegenüber
seinen „unerlösten“ Stammesgenossen. Und es fragt sich, ob das
Verhalten Englands, das nicht nur den Verschwörern aller Länder

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[35/0057] § 7. Die Souveränität als äuſsere Selbständigkeit. Anerkennung, die, wenn sie dennoch erfolgt, nur deklaratorische Bedeutung hat oder als Einzeldurchführung des selbstverständlichen Grundsatzes erscheint. Sie sind nur die logischen Folgen aus dem Begriff der Souveränität und daher mit dem Begriff des Staates als eines völkerrechtlichen Rechtssubjektes ohne weiteres gegeben; so daſs man sie auch als völkerrechtliche „Persönlichkeits- rechte“ bezeichnet hat (Heilborn). Es empfiehlt sich nicht, von einem besonderen „Recht der Selbsterhaltung“ (droit de conservation) zu sprechen, da dieses doch nur im Falle des Notstandes (unten § 24 III) zu Eingriffen in fremde Rechte berechtigt. Pillet, R. G. V 66. Stoerk, 1291. Heilborn, 280. 2. Durch die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft, die sich insbesondere auf den Staatenkongressen in dem gleichen Stimmrecht aller Beteiligten und dem Erfordernis der Stimmeneinhelligkeit bei allen Beschlüssen äuſsert, wird die thatsächliche Vorherrschaft einzelner von ihnen nicht ausgeschlossen. Man denke an die thatsächliche Stellung der europäischen Groſsmächte (das „Europäische Konzert“). II. Aus der Pflicht jedes Staates, die Selbständigkeit aller übrigen Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft zu achten, er- giebt sich: 1. Jeder Staat hat nicht nur jedes Angriffs auf die äuſsere Existenz jedes andern Staates sich zu enthalten, sondern auch dafür Sorge zu tragen, daſs auf dem von ihm beherrschten Gebiet kein solcher Angriff von seinen Staatsangehörigen oder von Staatsfremden vorbereitet oder unternommen werde. Italien würde mithin seinen völkerrechtlichen Pflichten zu- widerhandeln, wenn es den Bestrebungen der Italia irridenta, die auf Losreiſsung eines Teils des österreichischen Gebietes gerichtet sind, nicht entgegentreten wollte. Ebenso Rumänien gegenüber seinen „unerlösten“ Stammesgenossen. Und es fragt sich, ob das Verhalten Englands, das nicht nur den Verschwörern aller Länder 3*

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/57>, abgerufen am 26.04.2024.