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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
allgemeinen Interesse erfolgt. Dann ruht die Verpflichtung aller-
dings insoweit auf dem Gebiete, als sie bei Gebietsveränderungen
auf den Erwerber übergeht (unten § 23). Ein vielbesprochenes Bei-
spiel bieten die ehemals sardinischen Provinzen Chablais und
Faucigny. Diese sollten nach Artikel 92 der Wiener Kongressakte
an der Neutralität der Schweiz teilnehmen; im Fall eines Krieges
sollte Sardinien seine Truppen zurückziehen und die Schweiz das
Besetzungsrecht haben. Als durch den Turiner Vertrag vom
24. März 1860 diese Gebiete von Sardinien an Frankreich über-
tragen wurden, erkannte Frankreich ausdrücklich seine Verpflichtung
an, sie mit der auf ihnen ruhenden Neutralität zu übernehmen
und sich, falls es deren Beseitigung wünschte, mit den Signatar-
mächten der Wiener Kongressakte ins Einvernehmen zu setzen.
Die Schweiz hat auch 1859 und 1870 ihr Besetzungsrecht betont,
aber nicht ausgeübt. Aber auch in diesem Falle passt der privat-
rechtliche Begriff der Servituten schlecht auf diese streng öffent-
lich-rechtliche Beschränkung der Staatsgewalt (unten § 19 I).

III.

Die Gebietshoheit ergreift grundsätzlich alle auf dem Ge-
biet befindlichen Sachen, und zwar die unbeweglichen wie die beweg-
lichen Sachen, jedoch mit den durch die Exterritorialität
(s. unten IV)
gegebenen Einschränkungen.

1. Der Staat kann daher grundsätzlich Erwerb und Besitz
von unbeweglichen Sachen den Staatsfremden verbieten oder von
der Erfüllung besonderer Bedingungen abhängig machen (unten
§ 25 I). Dies gilt insbesondere auch von dem Erwerb durch einen
fremden Staat selbst oder durch fremde Staatshäupter und Staats-
vertreter.

2. Dingliche Klagen in Bezug auf unbewegliche Güter ge-
hören auch dann vor die Gerichte des Staates, in dem sie gelegen
sind, wenn der Kläger oder der Beklagte exterritorial ist. Dieser
allgemein anerkannte Satz kann auf die Erwägung gestützt werden,
dass, wer ein dingliches Recht an einer in fremdem Staate ge-
legenen Sache erwirbt, sich der Gerichtsbarkeit dieses Staates frei-
willig unterwirft.


I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
allgemeinen Interesse erfolgt. Dann ruht die Verpflichtung aller-
dings insoweit auf dem Gebiete, als sie bei Gebietsveränderungen
auf den Erwerber übergeht (unten § 23). Ein vielbesprochenes Bei-
spiel bieten die ehemals sardinischen Provinzen Chablais und
Faucigny. Diese sollten nach Artikel 92 der Wiener Kongreſsakte
an der Neutralität der Schweiz teilnehmen; im Fall eines Krieges
sollte Sardinien seine Truppen zurückziehen und die Schweiz das
Besetzungsrecht haben. Als durch den Turiner Vertrag vom
24. März 1860 diese Gebiete von Sardinien an Frankreich über-
tragen wurden, erkannte Frankreich ausdrücklich seine Verpflichtung
an, sie mit der auf ihnen ruhenden Neutralität zu übernehmen
und sich, falls es deren Beseitigung wünschte, mit den Signatar-
mächten der Wiener Kongreſsakte ins Einvernehmen zu setzen.
Die Schweiz hat auch 1859 und 1870 ihr Besetzungsrecht betont,
aber nicht ausgeübt. Aber auch in diesem Falle paſst der privat-
rechtliche Begriff der Servituten schlecht auf diese streng öffent-
lich-rechtliche Beschränkung der Staatsgewalt (unten § 19 I).

III.

Die Gebietshoheit ergreift grundsätzlich alle auf dem Ge-
biet befindlichen Sachen, und zwar die unbeweglichen wie die beweg-
lichen Sachen, jedoch mit den durch die Exterritorialität
(s. unten IV)
gegebenen Einschränkungen.

1. Der Staat kann daher grundsätzlich Erwerb und Besitz
von unbeweglichen Sachen den Staatsfremden verbieten oder von
der Erfüllung besonderer Bedingungen abhängig machen (unten
§ 25 I). Dies gilt insbesondere auch von dem Erwerb durch einen
fremden Staat selbst oder durch fremde Staatshäupter und Staats-
vertreter.

2. Dingliche Klagen in Bezug auf unbewegliche Güter ge-
hören auch dann vor die Gerichte des Staates, in dem sie gelegen
sind, wenn der Kläger oder der Beklagte exterritorial ist. Dieser
allgemein anerkannte Satz kann auf die Erwägung gestützt werden,
daſs, wer ein dingliches Recht an einer in fremdem Staate ge-
legenen Sache erwirbt, sich der Gerichtsbarkeit dieses Staates frei-
willig unterwirft.


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[44/0066] I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung. allgemeinen Interesse erfolgt. Dann ruht die Verpflichtung aller- dings insoweit auf dem Gebiete, als sie bei Gebietsveränderungen auf den Erwerber übergeht (unten § 23). Ein vielbesprochenes Bei- spiel bieten die ehemals sardinischen Provinzen Chablais und Faucigny. Diese sollten nach Artikel 92 der Wiener Kongreſsakte an der Neutralität der Schweiz teilnehmen; im Fall eines Krieges sollte Sardinien seine Truppen zurückziehen und die Schweiz das Besetzungsrecht haben. Als durch den Turiner Vertrag vom 24. März 1860 diese Gebiete von Sardinien an Frankreich über- tragen wurden, erkannte Frankreich ausdrücklich seine Verpflichtung an, sie mit der auf ihnen ruhenden Neutralität zu übernehmen und sich, falls es deren Beseitigung wünschte, mit den Signatar- mächten der Wiener Kongreſsakte ins Einvernehmen zu setzen. Die Schweiz hat auch 1859 und 1870 ihr Besetzungsrecht betont, aber nicht ausgeübt. Aber auch in diesem Falle paſst der privat- rechtliche Begriff der Servituten schlecht auf diese streng öffent- lich-rechtliche Beschränkung der Staatsgewalt (unten § 19 I). III. Die Gebietshoheit ergreift grundsätzlich alle auf dem Ge- biet befindlichen Sachen, und zwar die unbeweglichen wie die beweg- lichen Sachen, jedoch mit den durch die Exterritorialität (s. unten IV) gegebenen Einschränkungen. 1. Der Staat kann daher grundsätzlich Erwerb und Besitz von unbeweglichen Sachen den Staatsfremden verbieten oder von der Erfüllung besonderer Bedingungen abhängig machen (unten § 25 I). Dies gilt insbesondere auch von dem Erwerb durch einen fremden Staat selbst oder durch fremde Staatshäupter und Staats- vertreter. 2. Dingliche Klagen in Bezug auf unbewegliche Güter ge- hören auch dann vor die Gerichte des Staates, in dem sie gelegen sind, wenn der Kläger oder der Beklagte exterritorial ist. Dieser allgemein anerkannte Satz kann auf die Erwägung gestützt werden, daſs, wer ein dingliches Recht an einer in fremdem Staate ge- legenen Sache erwirbt, sich der Gerichtsbarkeit dieses Staates frei- willig unterwirft.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/66>, abgerufen am 26.04.2024.