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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Willkürliche motorische Erregung.
Streifen in hellem Grunde so einstellt, dass das eine Ende desselben auf den blinden
Fleck fällt, so erscheint jener um den Theil seiner Länge, mit welchem er den blin-
den Fleck trifft, verkürzt; verschiebt man nun aber den Streif, so dass sein Bild
beiderseits den blinden Fleck überragt, so verlängert er sich plötzlich, und zwar
nicht bloss um den Werth, mit welchem er in die empfindlichen Theile gelangt, son-
dern auch um den Durchmesser des blinden Flecks. -- b. Stellt man das Auge auf
einen gradlinig begrenzten dunklen (oder hellen) Streifen auf hellem (oder dunklem)
Grund so ein, dass der blinde Fleck noch innerhalb seines Verlaufs in der Retina
fällt, mit andern Worten, so dass das Bild des Streifens den blinden Fleck beider-
seits überragt, so erscheint er ununterbrochen, unverkürzt, in Form und Farbe unver-
ändert. -- c. Stellt man das Auge auf eine dunkle Scheibe auf hellem Grund oder
einen wellenförmig begrenzten Streifen so ein, dass der blinde Fleck in die Grenzlinie
der Curve fällt, so ersetzt die Vorstellung das ausfallende Curvenstück durch eine
gerade Linie, mit andern Worten das vorspringende Curvenstück erscheint abge-
schnitten durch die Farbe des Grundes, das eingebogene aber ausgefüllt mit der
Farbe welche die Fläche der Curve begränzt. -- d. Färbt man ein Kreuz, das aus fünf
Quadraten besteht derartig, dass die vier äusseren Quadrate gleichfarbig, das innere
fünfte aber andersfarbig wird, und stellt den blinden Fleck auf das mittlere Quadrat
ein, so erscheint ein volles Kreuz in der Farbe der äusseren Quadrate.

Willkürliche motorische Erregung. *)

1. Unserem Hirn wohnt das Vermögen bei, eine bestimmte Zahl von
Muskel- (und Drüsen?) nerven so zu beherrschen, dass es dieselben
aus dem physiologischen Ruhestand in den der Erregung versetzen
kann und umgekehrt, dass es die aus andern Gründen (durch Reflexe)
erregten Nerven zu beruhigen vermag. Dieses Vermögen zu erregen
und bestehende Erregung zu dämpfen, geht der Thatsache des Be-
wusstseins gemäss, scheinbar von ein und derselben Substanz aus,
und was noch merkwürdiger, es scheint die Unterbrechung einer be-
stehenden Bewegung oder ihre Einleitung von derselben Art der Kräfte
abzuhängen; denn der Thatsache des Bewusstseins nach sind wir es,
welche ein bis dahin ruhiges Glied bewegen und die in ihm vorhan-
dene Bewegung hemmen, und wir machen hierzu eine und dieselbe
Kraftanstrengung. Noch auffallender aber, es kann der Grad der
Bewegungsanregung oder Bewegungshemmung nach Belieben be-
stimmt werden, so dass auf dieselbe äussere Anregung hin, jeder
Grad von Muskelcontraktion, oder jede mögliche Geschwindigkeit in
der Reihenfolge der Zusammenziehung der einzelnen Muskeln eintre-
ten kann. -- So hingestellt scheint das Vermögen ausser den Grenzen
aller Analogie mit anderen Naturvorgängen zu liegen; aber gerade
diese Entfernung von aller Analogie wird den Physiologen vorerst
nur zu der Annahme bestimmen, dass die zur Erläuterung der Erschei-
nung gegebene Theorie vollkommener Freiheit ebenso mangelhaft ist,
als die Darstellung der Erscheinungen selbst; und aus eben diesem

*) J. Müller's Physiologie II. Bd. 63 u. f. -- Debrou in Longet Traite de physiologie I. Bd.
III. fascic. p. 57.

Willkürliche motorische Erregung.
Streifen in hellem Grunde so einstellt, dass das eine Ende desselben auf den blinden
Fleck fällt, so erscheint jener um den Theil seiner Länge, mit welchem er den blin-
den Fleck trifft, verkürzt; verschiebt man nun aber den Streif, so dass sein Bild
beiderseits den blinden Fleck überragt, so verlängert er sich plötzlich, und zwar
nicht bloss um den Werth, mit welchem er in die empfindlichen Theile gelangt, son-
dern auch um den Durchmesser des blinden Flecks. — b. Stellt man das Auge auf
einen gradlinig begrenzten dunklen (oder hellen) Streifen auf hellem (oder dunklem)
Grund so ein, dass der blinde Fleck noch innerhalb seines Verlaufs in der Retina
fällt, mit andern Worten, so dass das Bild des Streifens den blinden Fleck beider-
seits überragt, so erscheint er ununterbrochen, unverkürzt, in Form und Farbe unver-
ändert. — c. Stellt man das Auge auf eine dunkle Scheibe auf hellem Grund oder
einen wellenförmig begrenzten Streifen so ein, dass der blinde Fleck in die Grenzlinie
der Curve fällt, so ersetzt die Vorstellung das ausfallende Curvenstück durch eine
gerade Linie, mit andern Worten das vorspringende Curvenstück erscheint abge-
schnitten durch die Farbe des Grundes, das eingebogene aber ausgefüllt mit der
Farbe welche die Fläche der Curve begränzt. — d. Färbt man ein Kreuz, das aus fünf
Quadraten besteht derartig, dass die vier äusseren Quadrate gleichfarbig, das innere
fünfte aber andersfarbig wird, und stellt den blinden Fleck auf das mittlere Quadrat
ein, so erscheint ein volles Kreuz in der Farbe der äusseren Quadrate.

Willkürliche motorische Erregung. *)

1. Unserem Hirn wohnt das Vermögen bei, eine bestimmte Zahl von
Muskel- (und Drüsen?) nerven so zu beherrschen, dass es dieselben
aus dem physiologischen Ruhestand in den der Erregung versetzen
kann und umgekehrt, dass es die aus andern Gründen (durch Reflexe)
erregten Nerven zu beruhigen vermag. Dieses Vermögen zu erregen
und bestehende Erregung zu dämpfen, geht der Thatsache des Be-
wusstseins gemäss, scheinbar von ein und derselben Substanz aus,
und was noch merkwürdiger, es scheint die Unterbrechung einer be-
stehenden Bewegung oder ihre Einleitung von derselben Art der Kräfte
abzuhängen; denn der Thatsache des Bewusstseins nach sind wir es,
welche ein bis dahin ruhiges Glied bewegen und die in ihm vorhan-
dene Bewegung hemmen, und wir machen hierzu eine und dieselbe
Kraftanstrengung. Noch auffallender aber, es kann der Grad der
Bewegungsanregung oder Bewegungshemmung nach Belieben be-
stimmt werden, so dass auf dieselbe äussere Anregung hin, jeder
Grad von Muskelcontraktion, oder jede mögliche Geschwindigkeit in
der Reihenfolge der Zusammenziehung der einzelnen Muskeln eintre-
ten kann. — So hingestellt scheint das Vermögen ausser den Grenzen
aller Analogie mit anderen Naturvorgängen zu liegen; aber gerade
diese Entfernung von aller Analogie wird den Physiologen vorerst
nur zu der Annahme bestimmen, dass die zur Erläuterung der Erschei-
nung gegebene Theorie vollkommener Freiheit ebenso mangelhaft ist,
als die Darstellung der Erscheinungen selbst; und aus eben diesem

*) J. Müller’s Physiologie II. Bd. 63 u. f. — Debrou in Longet Traité de physiologie I. Bd.
III. fascic. p. 57.
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[446/0460] Willkürliche motorische Erregung. Streifen in hellem Grunde so einstellt, dass das eine Ende desselben auf den blinden Fleck fällt, so erscheint jener um den Theil seiner Länge, mit welchem er den blin- den Fleck trifft, verkürzt; verschiebt man nun aber den Streif, so dass sein Bild beiderseits den blinden Fleck überragt, so verlängert er sich plötzlich, und zwar nicht bloss um den Werth, mit welchem er in die empfindlichen Theile gelangt, son- dern auch um den Durchmesser des blinden Flecks. — b. Stellt man das Auge auf einen gradlinig begrenzten dunklen (oder hellen) Streifen auf hellem (oder dunklem) Grund so ein, dass der blinde Fleck noch innerhalb seines Verlaufs in der Retina fällt, mit andern Worten, so dass das Bild des Streifens den blinden Fleck beider- seits überragt, so erscheint er ununterbrochen, unverkürzt, in Form und Farbe unver- ändert. — c. Stellt man das Auge auf eine dunkle Scheibe auf hellem Grund oder einen wellenförmig begrenzten Streifen so ein, dass der blinde Fleck in die Grenzlinie der Curve fällt, so ersetzt die Vorstellung das ausfallende Curvenstück durch eine gerade Linie, mit andern Worten das vorspringende Curvenstück erscheint abge- schnitten durch die Farbe des Grundes, das eingebogene aber ausgefüllt mit der Farbe welche die Fläche der Curve begränzt. — d. Färbt man ein Kreuz, das aus fünf Quadraten besteht derartig, dass die vier äusseren Quadrate gleichfarbig, das innere fünfte aber andersfarbig wird, und stellt den blinden Fleck auf das mittlere Quadrat ein, so erscheint ein volles Kreuz in der Farbe der äusseren Quadrate. Willkürliche motorische Erregung. *) 1. Unserem Hirn wohnt das Vermögen bei, eine bestimmte Zahl von Muskel- (und Drüsen?) nerven so zu beherrschen, dass es dieselben aus dem physiologischen Ruhestand in den der Erregung versetzen kann und umgekehrt, dass es die aus andern Gründen (durch Reflexe) erregten Nerven zu beruhigen vermag. Dieses Vermögen zu erregen und bestehende Erregung zu dämpfen, geht der Thatsache des Be- wusstseins gemäss, scheinbar von ein und derselben Substanz aus, und was noch merkwürdiger, es scheint die Unterbrechung einer be- stehenden Bewegung oder ihre Einleitung von derselben Art der Kräfte abzuhängen; denn der Thatsache des Bewusstseins nach sind wir es, welche ein bis dahin ruhiges Glied bewegen und die in ihm vorhan- dene Bewegung hemmen, und wir machen hierzu eine und dieselbe Kraftanstrengung. Noch auffallender aber, es kann der Grad der Bewegungsanregung oder Bewegungshemmung nach Belieben be- stimmt werden, so dass auf dieselbe äussere Anregung hin, jeder Grad von Muskelcontraktion, oder jede mögliche Geschwindigkeit in der Reihenfolge der Zusammenziehung der einzelnen Muskeln eintre- ten kann. — So hingestellt scheint das Vermögen ausser den Grenzen aller Analogie mit anderen Naturvorgängen zu liegen; aber gerade diese Entfernung von aller Analogie wird den Physiologen vorerst nur zu der Annahme bestimmen, dass die zur Erläuterung der Erschei- nung gegebene Theorie vollkommener Freiheit ebenso mangelhaft ist, als die Darstellung der Erscheinungen selbst; und aus eben diesem *) J. Müller’s Physiologie II. Bd. 63 u. f. — Debrou in Longet Traité de physiologie I. Bd. III. fascic. p. 57.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/460>, abgerufen am 26.04.2024.