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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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Geschichtliche Entwicklungsstufen.

1. Die öffentliche Gewalt ist im Rechtsstaate auch für die Ver-
waltung in eine gewisse rechtliche Ordnung gebracht, um ihre Thätig-
keit justizmässig zu äussern. Gesetzgebende und vollziehende Gewalt
sind zu diesem Zwecke unterschieden und entsprechend gestaltet, der
Begriff des Verwaltungsaktes ist ausgebildet und durchgeführt.

2. Mit dieser Einrichtung ist die Möglichkeit gegeben, für die
Verwaltung rechtliche Gebundenheiten zu schaffen, wie sie für die
Justiz bestehen. Aber die Justiz, vermöge ihres ein für allemal be-
stimmten festen Ganges, bewegt sich durchweg nur in den Gebunden-
heiten, welche Gesetz und Urteil erzeugen. Die Verwaltung kann
ihr darin nicht gleichkommen; das Handeln des Staates zur Ver-
folgung seiner verschiedenartigen Zwecke lässt sich nicht in solche
gleichmässige Formen zwängen. Sie kann sich mit ihrem Gesetz und
ihren Verwaltungsakten der Justiz immer nur in einem gewissen Grade
nähern. Das Mass hängt ab von der Thunlichkeit und der Vereinbarkeit
mit dem besonderen Zwecke der staatlichen Thätigkeit; bald wird
mehr, bald weniger in dieser Richtung möglich sein. Es tritt deshalb
statt der rechtlichen Notwendigkeit ein blosses Sollen, eine Forde-
rung
an den Staat heran. Er soll möglichst viel sein Gesetz
verwenden, um Rechtssätze für die Verwaltung zu schaffen, mög-
lichst viel
seine Verwaltungsakte, um den Einzelfall in rechtlich
gebundener Weise zu bestimmen.

Der Staat, der für seine Verwaltung kein Gesetz hat und keinen
Verwaltungsakt, ist kein Rechtsstaat.

Der Staat, der beides ausgebildet hat, ist als Rechtsstaat voll-
kommener oder unvollkommener je nach dem Masse, in welchem er
von diesen Formen Gebrauch macht und ihre Wirksamkeit sichert.


Geschichtliche Entwicklungsstufen.

1. Die öffentliche Gewalt ist im Rechtsstaate auch für die Ver-
waltung in eine gewisse rechtliche Ordnung gebracht, um ihre Thätig-
keit justizmäſsig zu äuſsern. Gesetzgebende und vollziehende Gewalt
sind zu diesem Zwecke unterschieden und entsprechend gestaltet, der
Begriff des Verwaltungsaktes ist ausgebildet und durchgeführt.

2. Mit dieser Einrichtung ist die Möglichkeit gegeben, für die
Verwaltung rechtliche Gebundenheiten zu schaffen, wie sie für die
Justiz bestehen. Aber die Justiz, vermöge ihres ein für allemal be-
stimmten festen Ganges, bewegt sich durchweg nur in den Gebunden-
heiten, welche Gesetz und Urteil erzeugen. Die Verwaltung kann
ihr darin nicht gleichkommen; das Handeln des Staates zur Ver-
folgung seiner verschiedenartigen Zwecke läſst sich nicht in solche
gleichmäſsige Formen zwängen. Sie kann sich mit ihrem Gesetz und
ihren Verwaltungsakten der Justiz immer nur in einem gewissen Grade
nähern. Das Maſs hängt ab von der Thunlichkeit und der Vereinbarkeit
mit dem besonderen Zwecke der staatlichen Thätigkeit; bald wird
mehr, bald weniger in dieser Richtung möglich sein. Es tritt deshalb
statt der rechtlichen Notwendigkeit ein bloſses Sollen, eine Forde-
rung
an den Staat heran. Er soll möglichst viel sein Gesetz
verwenden, um Rechtssätze für die Verwaltung zu schaffen, mög-
lichst viel
seine Verwaltungsakte, um den Einzelfall in rechtlich
gebundener Weise zu bestimmen.

Der Staat, der für seine Verwaltung kein Gesetz hat und keinen
Verwaltungsakt, ist kein Rechtsstaat.

Der Staat, der beides ausgebildet hat, ist als Rechtsstaat voll-
kommener oder unvollkommener je nach dem Maſse, in welchem er
von diesen Formen Gebrauch macht und ihre Wirksamkeit sichert.


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[66/0086] Geschichtliche Entwicklungsstufen. 1. Die öffentliche Gewalt ist im Rechtsstaate auch für die Ver- waltung in eine gewisse rechtliche Ordnung gebracht, um ihre Thätig- keit justizmäſsig zu äuſsern. Gesetzgebende und vollziehende Gewalt sind zu diesem Zwecke unterschieden und entsprechend gestaltet, der Begriff des Verwaltungsaktes ist ausgebildet und durchgeführt. 2. Mit dieser Einrichtung ist die Möglichkeit gegeben, für die Verwaltung rechtliche Gebundenheiten zu schaffen, wie sie für die Justiz bestehen. Aber die Justiz, vermöge ihres ein für allemal be- stimmten festen Ganges, bewegt sich durchweg nur in den Gebunden- heiten, welche Gesetz und Urteil erzeugen. Die Verwaltung kann ihr darin nicht gleichkommen; das Handeln des Staates zur Ver- folgung seiner verschiedenartigen Zwecke läſst sich nicht in solche gleichmäſsige Formen zwängen. Sie kann sich mit ihrem Gesetz und ihren Verwaltungsakten der Justiz immer nur in einem gewissen Grade nähern. Das Maſs hängt ab von der Thunlichkeit und der Vereinbarkeit mit dem besonderen Zwecke der staatlichen Thätigkeit; bald wird mehr, bald weniger in dieser Richtung möglich sein. Es tritt deshalb statt der rechtlichen Notwendigkeit ein bloſses Sollen, eine Forde- rung an den Staat heran. Er soll möglichst viel sein Gesetz verwenden, um Rechtssätze für die Verwaltung zu schaffen, mög- lichst viel seine Verwaltungsakte, um den Einzelfall in rechtlich gebundener Weise zu bestimmen. Der Staat, der für seine Verwaltung kein Gesetz hat und keinen Verwaltungsakt, ist kein Rechtsstaat. Der Staat, der beides ausgebildet hat, ist als Rechtsstaat voll- kommener oder unvollkommener je nach dem Maſse, in welchem er von diesen Formen Gebrauch macht und ihre Wirksamkeit sichert.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/86>, abgerufen am 26.04.2024.