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Mehring, Franz: Kunst und Proletariat. Stuttgart, 1896.

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Kunst und Proletariat.
"Neue Welt" aufnehmen solle, weil er zu tendenziös im Sinne der Sozialdemo¬
kratie sei und deshalb künstlerische Ansprüche zu wenig befriedige. Dies Urtheil
stimmt aufs Haar. Herr Land hat den besten Willen gehabt, einen Ausschnitt
aus dem proletarischen Klassenkampfe in einem dem Proletariat sympathischen
Sinne zu geben, aber er hat keine blasse Ahnung davon, wie es in Arbeiter¬
kreisen eigentlich hergeht; sein Roman ist eine romantische Dichtung im ver¬
wegensten Sinne des Wortes. Und deshalb ist es überaus bezeichnend, daß
so viele Arbeiter darin eine Verhöhnung ihres Emanzipationskampfes erblickt
haben; über dem Mangel an künstlerischer Gestaltungsfähigkeit übersahen sie voll¬
ständig die arbeiterfreundliche Tendenz des Dichters.

Anders und doch wieder ähnlich mit der "Mutter Bertha", der auf dem
Parteitag mit so geringer Galanterie begegnet worden ist. Der Roman Hegelers
überragt dichterisch den Roman Lands, und es wäre unseres Erachtens sehr un¬
gerecht, ihn nach der einen, auf dem Parteitag wörtlich verlesenen Stelle zu be-
und verurtheilen. Die paar Sätze hätten ruhig gestrichen werden können, ohne
den Roman zu schädigen, aber freilich -- hier liegt wieder der Hase im Pfeffer.
Der moderne Arbeiter ist nichts weniger als prüde; er läßt sich weit ärgere
-- im Sinne der Philistermoral -- ärgere Dinge bieten, als in der "Mutter
Bertha" vorkommen, aber alles an seinem Orte. Gerade weil die Vertreter der
modernen Kunst derartige Natürlichkeiten an den Haaren herbeiziehen, gerade weil
sie den Heldenmuth, den sie gegenüber den großen Kämpfen der Zeit vermissen
lassen, dadurch bezeugen wollen, daß sie natürliche Dinge auf offener Straße
thun, die man sonst zwischen vier Wänden zu thun pflegt, erregen sie herzhaften
Widerwillen. Im Uebrigen ist "Mutter Bertha" bei allem anerkennenswerthen
Talent des Dichters und trotz mancher vortrefflichen Kapitel doch auch eine sehr
romantische Dame, wie denn die moderne Kunst von der bürgerlichen Romantik
weit weniger frei ist, als sie selbst glaubt.

Das Ideal der "reinen Kunst" ist überhaupt ein Erbtheil der reaktionär¬
romantischen Schule, das jede revolutionäre Klasse nur sehr mit Vorbehalt an¬
treten wird. Es ist mindestens ebenso einseitig, wie die Moralfexerei einseitig
war, womit das bürgerlich-revolutionäre Drama im achtzehnten Jahrhundert
begann. Sollte den ästhetischen Anschauungen der modernen Arbeiterklasse wirklich
noch ein kleines Moralzöpfchen hinten hängen, so braucht sie sich dessen gar nicht
zu schämen. Sie kann sich deshalb auf den jungen Lessing und den jungen
Schiller berufen, die in der Schaubühne auch eine "moralische Anstalt" sahen.
Früher waren die Vertreter der "reinen Kunst" auch offenherzige Reaktionäre
und mogelten dem lieben Publikum nicht vor, daß sie der Himmel weiß welche
Revolutionäre seien. Der alte Vilmar verdonnert in seiner Literaturgeschichte
vom Standpunkt der "reinen Kunst" Schillers "Kabale und Liebe" als eine
ekelhafte Karrikatur, und das ist vollkommen richtig, wenn anders der Standpunkt
der "reinen Kunst" richtig sein soll. So lächerlich wie Herr Brahm, der "Kabale
und Liebe", noch dazu in "naturalistischer" Verhunzung, als ein prunkendes Meister¬
stück aufführen läßt und dabei die putzigsten Gesichter schneidet über die banausische
Arbeiterklasse, die das "Kapital" von Marx dramatisirt sehen wolle, waren die
alten Reaktionäre der "reinen Kunst" nicht. Mit diesen gelungenen Exemplaren
moderner Gesinnungstüchtigkeit hat uns erst die moderne Kunst gesegnet.

Natürlich ist die "reine Kunst", indem sie angeblich parteilos sein will,
erst recht parteiisch. Will sie auf einer höheren Warte stehen, als auf der Zinne
der Partei, so muß sie nach rechts und nach links sehen, so muß sie nicht nur
die alte, vergehende, sondern auch die neue, entstehende Welt schildern. Wir

Kunſt und Proletariat.
„Neue Welt“ aufnehmen ſolle, weil er zu tendenziös im Sinne der Sozialdemo¬
kratie ſei und deshalb künſtleriſche Anſprüche zu wenig befriedige. Dies Urtheil
ſtimmt aufs Haar. Herr Land hat den beſten Willen gehabt, einen Ausſchnitt
aus dem proletariſchen Klaſſenkampfe in einem dem Proletariat ſympathiſchen
Sinne zu geben, aber er hat keine blaſſe Ahnung davon, wie es in Arbeiter¬
kreiſen eigentlich hergeht; ſein Roman iſt eine romantiſche Dichtung im ver¬
wegenſten Sinne des Wortes. Und deshalb iſt es überaus bezeichnend, daß
ſo viele Arbeiter darin eine Verhöhnung ihres Emanzipationskampfes erblickt
haben; über dem Mangel an künſtleriſcher Geſtaltungsfähigkeit überſahen ſie voll¬
ſtändig die arbeiterfreundliche Tendenz des Dichters.

Anders und doch wieder ähnlich mit der „Mutter Bertha“, der auf dem
Parteitag mit ſo geringer Galanterie begegnet worden iſt. Der Roman Hegelers
überragt dichteriſch den Roman Lands, und es wäre unſeres Erachtens ſehr un¬
gerecht, ihn nach der einen, auf dem Parteitag wörtlich verleſenen Stelle zu be-
und verurtheilen. Die paar Sätze hätten ruhig geſtrichen werden können, ohne
den Roman zu ſchädigen, aber freilich — hier liegt wieder der Haſe im Pfeffer.
Der moderne Arbeiter iſt nichts weniger als prüde; er läßt ſich weit ärgere
— im Sinne der Philiſtermoral — ärgere Dinge bieten, als in der „Mutter
Bertha“ vorkommen, aber alles an ſeinem Orte. Gerade weil die Vertreter der
modernen Kunſt derartige Natürlichkeiten an den Haaren herbeiziehen, gerade weil
ſie den Heldenmuth, den ſie gegenüber den großen Kämpfen der Zeit vermiſſen
laſſen, dadurch bezeugen wollen, daß ſie natürliche Dinge auf offener Straße
thun, die man ſonſt zwiſchen vier Wänden zu thun pflegt, erregen ſie herzhaften
Widerwillen. Im Uebrigen iſt „Mutter Bertha“ bei allem anerkennenswerthen
Talent des Dichters und trotz mancher vortrefflichen Kapitel doch auch eine ſehr
romantiſche Dame, wie denn die moderne Kunſt von der bürgerlichen Romantik
weit weniger frei iſt, als ſie ſelbſt glaubt.

Das Ideal der „reinen Kunſt“ iſt überhaupt ein Erbtheil der reaktionär¬
romantiſchen Schule, das jede revolutionäre Klaſſe nur ſehr mit Vorbehalt an¬
treten wird. Es iſt mindeſtens ebenſo einſeitig, wie die Moralfexerei einſeitig
war, womit das bürgerlich-revolutionäre Drama im achtzehnten Jahrhundert
begann. Sollte den äſthetiſchen Anſchauungen der modernen Arbeiterklaſſe wirklich
noch ein kleines Moralzöpfchen hinten hängen, ſo braucht ſie ſich deſſen gar nicht
zu ſchämen. Sie kann ſich deshalb auf den jungen Leſſing und den jungen
Schiller berufen, die in der Schaubühne auch eine „moraliſche Anſtalt“ ſahen.
Früher waren die Vertreter der „reinen Kunſt“ auch offenherzige Reaktionäre
und mogelten dem lieben Publikum nicht vor, daß ſie der Himmel weiß welche
Revolutionäre ſeien. Der alte Vilmar verdonnert in ſeiner Literaturgeſchichte
vom Standpunkt der „reinen Kunſt“ Schillers „Kabale und Liebe“ als eine
ekelhafte Karrikatur, und das iſt vollkommen richtig, wenn anders der Standpunkt
der „reinen Kunſt“ richtig ſein ſoll. So lächerlich wie Herr Brahm, der „Kabale
und Liebe“, noch dazu in „naturaliſtiſcher“ Verhunzung, als ein prunkendes Meiſter¬
ſtück aufführen läßt und dabei die putzigſten Geſichter ſchneidet über die banauſiſche
Arbeiterklaſſe, die das „Kapital“ von Marx dramatiſirt ſehen wolle, waren die
alten Reaktionäre der „reinen Kunſt“ nicht. Mit dieſen gelungenen Exemplaren
moderner Geſinnungstüchtigkeit hat uns erſt die moderne Kunſt geſegnet.

Natürlich iſt die „reine Kunſt“, indem ſie angeblich parteilos ſein will,
erſt recht parteiiſch. Will ſie auf einer höheren Warte ſtehen, als auf der Zinne
der Partei, ſo muß ſie nach rechts und nach links ſehen, ſo muß ſie nicht nur
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[131/0017] Kunſt und Proletariat. „Neue Welt“ aufnehmen ſolle, weil er zu tendenziös im Sinne der Sozialdemo¬ kratie ſei und deshalb künſtleriſche Anſprüche zu wenig befriedige. Dies Urtheil ſtimmt aufs Haar. Herr Land hat den beſten Willen gehabt, einen Ausſchnitt aus dem proletariſchen Klaſſenkampfe in einem dem Proletariat ſympathiſchen Sinne zu geben, aber er hat keine blaſſe Ahnung davon, wie es in Arbeiter¬ kreiſen eigentlich hergeht; ſein Roman iſt eine romantiſche Dichtung im ver¬ wegenſten Sinne des Wortes. Und deshalb iſt es überaus bezeichnend, daß ſo viele Arbeiter darin eine Verhöhnung ihres Emanzipationskampfes erblickt haben; über dem Mangel an künſtleriſcher Geſtaltungsfähigkeit überſahen ſie voll¬ ſtändig die arbeiterfreundliche Tendenz des Dichters. Anders und doch wieder ähnlich mit der „Mutter Bertha“, der auf dem Parteitag mit ſo geringer Galanterie begegnet worden iſt. Der Roman Hegelers überragt dichteriſch den Roman Lands, und es wäre unſeres Erachtens ſehr un¬ gerecht, ihn nach der einen, auf dem Parteitag wörtlich verleſenen Stelle zu be- und verurtheilen. Die paar Sätze hätten ruhig geſtrichen werden können, ohne den Roman zu ſchädigen, aber freilich — hier liegt wieder der Haſe im Pfeffer. Der moderne Arbeiter iſt nichts weniger als prüde; er läßt ſich weit ärgere — im Sinne der Philiſtermoral — ärgere Dinge bieten, als in der „Mutter Bertha“ vorkommen, aber alles an ſeinem Orte. Gerade weil die Vertreter der modernen Kunſt derartige Natürlichkeiten an den Haaren herbeiziehen, gerade weil ſie den Heldenmuth, den ſie gegenüber den großen Kämpfen der Zeit vermiſſen laſſen, dadurch bezeugen wollen, daß ſie natürliche Dinge auf offener Straße thun, die man ſonſt zwiſchen vier Wänden zu thun pflegt, erregen ſie herzhaften Widerwillen. Im Uebrigen iſt „Mutter Bertha“ bei allem anerkennenswerthen Talent des Dichters und trotz mancher vortrefflichen Kapitel doch auch eine ſehr romantiſche Dame, wie denn die moderne Kunſt von der bürgerlichen Romantik weit weniger frei iſt, als ſie ſelbſt glaubt. Das Ideal der „reinen Kunſt“ iſt überhaupt ein Erbtheil der reaktionär¬ romantiſchen Schule, das jede revolutionäre Klaſſe nur ſehr mit Vorbehalt an¬ treten wird. Es iſt mindeſtens ebenſo einſeitig, wie die Moralfexerei einſeitig war, womit das bürgerlich-revolutionäre Drama im achtzehnten Jahrhundert begann. Sollte den äſthetiſchen Anſchauungen der modernen Arbeiterklaſſe wirklich noch ein kleines Moralzöpfchen hinten hängen, ſo braucht ſie ſich deſſen gar nicht zu ſchämen. Sie kann ſich deshalb auf den jungen Leſſing und den jungen Schiller berufen, die in der Schaubühne auch eine „moraliſche Anſtalt“ ſahen. Früher waren die Vertreter der „reinen Kunſt“ auch offenherzige Reaktionäre und mogelten dem lieben Publikum nicht vor, daß ſie der Himmel weiß welche Revolutionäre ſeien. Der alte Vilmar verdonnert in ſeiner Literaturgeſchichte vom Standpunkt der „reinen Kunſt“ Schillers „Kabale und Liebe“ als eine ekelhafte Karrikatur, und das iſt vollkommen richtig, wenn anders der Standpunkt der „reinen Kunſt“ richtig ſein ſoll. So lächerlich wie Herr Brahm, der „Kabale und Liebe“, noch dazu in „naturaliſtiſcher“ Verhunzung, als ein prunkendes Meiſter¬ ſtück aufführen läßt und dabei die putzigſten Geſichter ſchneidet über die banauſiſche Arbeiterklaſſe, die das „Kapital“ von Marx dramatiſirt ſehen wolle, waren die alten Reaktionäre der „reinen Kunſt“ nicht. Mit dieſen gelungenen Exemplaren moderner Geſinnungstüchtigkeit hat uns erſt die moderne Kunſt geſegnet. Natürlich iſt die „reine Kunſt“, indem ſie angeblich parteilos ſein will, erſt recht parteiiſch. Will ſie auf einer höheren Warte ſtehen, als auf der Zinne der Partei, ſo muß ſie nach rechts und nach links ſehen, ſo muß ſie nicht nur die alte, vergehende, ſondern auch die neue, entſtehende Welt ſchildern. Wir

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Zitationshilfe: Mehring, Franz: Kunst und Proletariat. Stuttgart, 1896, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mehring_kunst_1896/17>, abgerufen am 26.04.2024.